Die Buecherfluesterin
lassen. Du hast dich bereits verändert, seit du ihn getroffen hast. Du bist lockerer geworden… mehr in deinem Element. Und du niest nicht mehr.«
Ich drücke mit dem Finger auf meinen Nasenrücken. Meine Nebenhöhlen sind frei. » Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon keine Allergietabletten mehr genommen habe.«
Wieder zeigt er mit dem Rührstäbchen auf mich. » Seit Dr. Hunt dich geküsst hat. Verstehst du, was ich meine? Ich habe also doch recht.«
Kapitel 29
Z
urück im Buchladen, betrachte ich mein Gesicht im Toilettenspiegel. Meine Wangen sind gerötet. Meine Augen sind nicht mehr so verschwollen. Und mein Haar sieht dunkler aus. Die grauen Strähnen an den Schläfen sind weniger geworden.
» Vielleicht liegt es am Kuss«, sage ich zu meinem Spiegelbild. » Oder daran, dass ich wieder Pu der Bär lese. Keine Ahnung.«
Als ich aus der Toilette komme, stehe ich vor einem kleinen Jungen, der gerade in die Kinderbuchabteilung geht. Sein zerzaustes Haar erinnert an einen Strohhaufen. Auf seiner Nase sitzt eine überdimensionale Brille, die seine Augen unnatürlich groß erscheinen lässt. Er beugt den Kopf nach vorne, dass das Kinn beinahe die Brust berührt, als sei die Brille zu schwer für seinen Kopf. Auf dem Rücken hat er einen riesigen, ausgebeulten blauen Rucksack, der aussieht wie ein Buckel. Er trägt einen winzigen grauen Sakko, darunter einen karierten Pulli und eine rote Krawatte, Jeans und braune Mokassins. Er starrt zu Boden. Seine Hand umfasst den Gurt des Rucksacks.
» Kann ich dir helfen?«, frage ich. » Suchst du ein Buch?«
Er nickt und schaut weiter zu Boden.
Er ist kein Kind, das gerne lacht und sich beim Spielen schmutzig macht.
Dr. Seuss spricht in meinem Kopf. Sicher eine Erinnerung, die in mir aufsteigt. » Möchtest du ein Abenteuer erleben und eine ganz andere Welt besuchen?«, frage ich den Jungen.
Er nickt, und seine Miene erhellt sich.
Der Löwe, die Hexe und der Kleiderschrank fällt genau auf Augenhöhe des Jungen seitlich aus dem Regal. Er hebt es auf, betrachtet die Abbildung auf dem Einband und lächelt.
Ich gehe vor ihm in die Knie. » Das ist eine wunderschöne Geschichte, und wir haben noch viel mehr davon.«
Wieder lächelt er, und ich merke ihm an, dass es ihm viel Mut gekostet hat, hierherzukommen. Ich ahne, wie er die Welt empfindet– sie ist riesig, laut und Angst einflößend. Er wagt es nicht, anderen Menschen in die Augen zu schauen, und ist so schüchtern, dass er die Straßenseite wechselt, sobald sich jemand aus der anderen Richtung nähert. Anstatt um etwas zu bitten, verzichtet er lieber, damit er mit niemandem sprechen muss.
» Du kannst das Buch mitnehmen«, sage ich. Was tue ich da? So macht meine Tante nie einen Gewinn.
Er lächelt, als hätte ich ihm eine Million Dollar in die Hand gedrückt, und kramt eine Geldbörse aus der Tasche.
Ich schiebe seine Hand weg. » Das geht auf mich.«
» Wirklich?« Sein Lächeln wird breiter.
» Du kannst dein Geld behalten.«
Er platzt fast vor Glückseligkeit, während er beschwingten Schritts zur Tür geht. Inzwischen hat er den Blick ein wenig gehoben und starrt nicht mehr zu Boden.
In diesem Moment möchte ich nirgendwo anders sein und auch nichts anderes tun. Auch dann nicht, als eine junge Frau tränenüberströmt in den Salon kommt und vor dem Regal mit der Aufschrift Trauerarbeit stehen bleibt.
» Fühlen Sie sich nicht wohl?«, erkundige ich mich. » Haben Sie jemanden verloren?«
» Woher wissen Sie das?«
Gute Frage. » Ich habe nur geraten. Sie sehen traurig aus.«
Tränen quellen aus ihren Augenwinkeln. Sie hält ein Buch mit dem Titel Wie man den Tod seines Haustiers verkraftet in der Hand und wischt sich gleichzeitig die Wangen ab. Ihre Lippen zittern. » Ich heiße Olivia.«
» Jasmine. Das Buch, das Sie da haben… »
» Haustier hin, Haustier her. Er war nicht nur mein Haustier, sondern meine Muse, mein Seelentröster. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen soll.« Ihre Stimme bebt. Sie braucht etwas, irgendetwas, an das sie sich klammern kann. » Ich erinnere mich an jede Einzelheit. Immer hat er mich geweckt, indem er ganz sanft mit der Pfote meine Wange angestupst hat. Wenn er zusammengerollt auf meinem Schoß lag, hat er das Kinn auf mein Handgelenk gestützt. Er war der wunderschönste und weichste Tigerkater und hat mich so voller Liebe und Vertrauen angesehen.« Sie schnieft und fängt an zu schluchzen.
» Dann sind Sie hier richtig.« Meine Stimme ist vor
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