Die Buecherfluesterin
kommt in die Teeküche. Es ist der Mann mit dem fleckigen Gesicht, der an meinem ersten Tag hier ein Kinderbuch für sich selbst kaufen wollte. Mein Herz setzt einen Schlag aus.
» …Dividende«, höre ich Scott sagen.
» Hmmm.« Ich versuche, mich auf den Text zu konzentrieren.
Der Mann mit dem fleckigen Gesicht blickt sich mit hochgezogenen Schultern um. Er braucht Beratung.
» …Performance-Berichte«, fährt Scott fort.
Tony steckt den Kopf zur Tür herein und winkt den Mann mit dem fleckigen Gesicht heran. Der Mann folgt Tony den Flur entlang.
» …während der Präsentation sollten Sie hauptsächlich den Vorstandsvorsitzenden ansprechen«, weist Scott an. » Ich meine, die Vorstandsvorsitzende. Sie wird Fragen haben. Bereiten Sie sich gut vor.«
» Ich bin immer gut vorbereitet.« Ich spitze die Ohren, um das Gespräch zwischen Tony und dem Mann auf dem Flur zu verfolgen, kann jedoch nichts verstehen.
Scott klopft mit dem Zeigefinger auf den Tisch. » Hören Sie mir überhaupt zu? Sie wirken so geistesabwesend.«
» Selbstverständlich.«
» Gut.« Scott schaut auf die Uhr. » Schade, dass wir nicht mehr Zeit haben, aber ich muss die Fähre erwischen. Ich lasse Ihnen die Papiere hier.« Er steckt sein Exemplar der Aktennotiz in den Koffer, steht auf und geht in die Vorhalle, um seinen Mantel zu holen. » Arbeiten Sie die Unterlagen durch«, ruft er, schon auf dem Weg nach draußen.
» Das werde ich ganz bestimmt tun«, entgegne ich.
Ich werde auf Zack sein und alle mit meinem Fachwissen beeindrucken. Scott wird mir eine Geschäftspartnerschaft anbieten. Das Konto Hoffmann wird der Höhepunkt jahrelanger harter Arbeit sein. Ich werde ein Vermögen verdienen, ein glückliches Leben in meiner neuen Eigentumswohnung am Strand führen und mich in der Sonne aalen. Zum Teufel mit Robert und Lauren.
Kapitel 32
I
n der nächsten Woche stehe ich früh auf, um meine Präsentation zu üben. Ich laufe in der Wohnung meiner Tante auf den knarzenden Dielen hin und her, führe gestikulierend Selbstgespräche und fuchtle mit einem imaginären Zeigestab herum. Außerdem lese ich jede einzelne Seite, die Scott mir hinterlassen hat, und lerne sämtliche Argumente auswendig.
Anschließend mache ich einen Spaziergang am Strand und atme die wilde, salzige Meeresluft ein. Meine riesige Handtasche und das Mobiltelefon bleiben zu Hause.
Eines Abends besuchen meine Eltern und ich wieder die Mauliks. Doch die Stimmung ist gedämpft und gedrückt. Sanchita ist nicht zurückgekommen. Mohan hat ein Kindermädchen eingestellt.
Ich konzentriere mich auf die Arbeit und aufs Lesen, entdecke H. P. Lovecraft und staune über seinen Umgang mit großen Worten wie Eidolon, Eleate und zyklopisch. Außerdem lese ich Nabokov und Wordsworth. In der Vorlesestunde schlage ich mich ausgezeichnet, und beim nächsten Treffen des Literaturzirkels sitze ich mit den Frauen in der Teeküche und diskutiere über Bücher.
Am frühen Sonntagmorgen, eine Woche vor meiner Rückkehr nach Kalifornien, bringe ich die Memoiren von Connors Vater in den Salon und stelle sie ins Regal. » Wahrscheinlich braucht er kein weiteres Exemplar«, sage ich laut.
» Ich kann immer eins gebrauchen«, erwidert eine dunkle Stimme hinter mir. Ich wirble herum, und da ist er, kommt den Flur entlang und bringt den Geruch nach frischer Luft und Wald mit.
Mein Herz fängt wie wild zu klopfen an. Das Blut steigt mir zu Kopf. » Du bist hier!«
» Schön, dass du dich freust, mich zu sehen.« In einer schwarzen Jacke, Cargohose und T-Shirt und mit der antiken Uhr am Handgelenk steht er vor mir.
» Ich habe dich vermisst.«
» Ich dich auch.« Er nimmt mich in die Arme und wirbelt mich herum, als ob ich schwerelos wäre. Ich werde an seine kräftige Brust gedrückt und wünsche mir, dass er mich nie wieder loslässt.
Als er mich wieder auf den Boden stellt, bin ich atemlos. » Ich dachte schon, ich würde dich nicht wiedersehen…«
» Ich wollte dir Zeit geben.«
» Du hättest anrufen können.«
» Du hast Abstand gebraucht.«
» Ich hatte genug Abstand.« Meine Gedanken rasen wie mein Herz.
» Hör zu«, sagt er und fasst mich an den Händen. » Lass uns weggehen. Nur heute. Falls du nichts anderes vorhast.«
» Connor, ich…«
» Nimm die Memoiren mit… ich würde sie mir gerne ausleihen.«
» Sie gehören dir.« Ich hole Mantel und Tasche aus dem Schrank. » Moment, ich bin gleich zurück.« Wie auf Wolken haste ich ins Büro und rufe Tony zu Hause
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