Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Buecherfluesterin

Die Buecherfluesterin

Titel: Die Buecherfluesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anjali Banerjee
Vom Netzwerk:
ist.«
    Er strampelt auf dem Fahrradweg neben mir her. » Diese Frage kriege ich jedes Mal zu hören, wenn mich jemand erkennt.«
    » Was meinte sie denn mit geheimnisvoll…?«
    » Es ist nichts Geheimnisvolles daran, wenn man den Vater verliert. Er ist einfach gestorben. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
    » Ich wollte nicht neugierig sein.«
    » Kein Problem. Wir wollen uns einen schönen Tag machen.«
    Gut, dann ist das offenbar ein Tabuthema. Ich lasse ihn in Ruhe. Wir kommen an Wiesen, Farmen, Weinbergen und dichten alten Waldstücken vorbei. Erinnerungen kehren zurück. Wie oft bin ich auf meinem Rad diese Straßen entlanggefahren? Freihändig, lachend, tollkühl. Risikobereit. » Am Ende dieser Straße liegt Grand Woods«, sage ich und zeige nach links. » Und auf diesem Feld findet bis Oktober samstags ein Bauernmarkt statt. Da drüben rechts ist North Beach, und im Westen haben wir Fort Winston, eine alte Militärfestung, die heute zu einem Park umgewandelt worden ist.«
    Er nickt lächelnd.
    » Hier geht es zu meinem alten Haus.« Ich biege nach links in die schattige Rhodie Lane ein und fahre bis zum Ende der Sackgasse, wo die Straße in einem dichten Wald aus Föhren, Zedern und Madrone-Bäumen mündet. Als ich mich meinem alten Haus nähere, werden meine Handflächen feucht. Connor ist dicht neben mir.
    Ich halte am Randstein vor dem Haus, steige vom Rad, stehe da und starre das Gebäude an, das die Heimat meiner Kindheit war. Connor stoppt neben mir. Ich höre seinen Atem und rieche seinen Schweiß. Er schweigt.
    Unser ehemals blauer Bungalow ist in einem tristen Braunton gestrichen. Die Holzjalousien wurden durch Spitzenvorhänge ersetzt. Meine Gefühle schieben sich übereinander wie tektonische Platten. » Sie haben die Blautanne im Vorgarten gefällt. Und hinten hatten wir zwei riesige Ahornbäume. Wir haben den Großteil des Gartens verwildern lassen. Früher waren hier Bäume.« Nun sind sie alle fort, ersetzt durch gedrungene Büsche und einen künstlich unkrautfrei gehaltenen, gepflegten Rasen. Tränen treten mir in die Augen.
    Connor legt mir tröstend die Hand auf die Schulter. » Damit hast du wohl nicht gerechnet?«
    Ich umklammere den Lenker, als könnte das Rad mir entgleiten. » Nur der Gartenweg ist derselbe.« Es sind noch immer bunte Glasperlen und Steine in den Beton eingelassen. Eine blaue Glasscherbe funkelt im Sonnenlicht und weckt eine Erinnerung. Ich muss knapp zehn Jahre alt sein und renne in Sommerkleid und Sandalen den Weg entlang. Unter dem Arm habe ich ein Buch, Green Eggs and Ham.
    Dad will mich zum Buchladen der Tante fahren. Ich kann es kaum erwarten, dieses Buch gegen ein neues umzutauschen. Immer wenn ich das alte Haus meiner Tante betrete, spricht Dr. Seuss zu mir in Reimen. Dann sitze ich auf der dunklen Dienstbotentreppe und unterhalte mich mit ihm und den anderen Autoren, deren Geister mich umschwirren wie Schmetterlinge und mir schöne Geschichten erzählen.
    Als ich älter wurde und immer weniger Zeit im Buchladen verbrachte, begannen die Geister zu verblassen, und ich vergaß ihre Magie.
    » Alles in Ordnung?« Als Connor meine Wange berührt, wird sein Finger nass.
    Hastig wische ich die Tränen ab. » Mir ist nur… etwas aus meiner Kindheit eingefallen.«
    » Möchtest du darüber reden?«
    Ich schüttle den Kopf.
    Er nimmt meine Hand. » Wir können fahren«, schlägt er sanft vor.
    Eine Frau in einer karierten, limetteneiscremefarbenen Kittelschürze aus Polyester tritt auf die Veranda. Unter dem Saum der Kittelschürze lugen schwabbelige Beine hervor, die keine Knöchel zu haben scheinen. Sie bückt sich mit großer Mühe nach der Zeitung auf der Veranda und kehrt ins Haus zurück. Das hier ist jetzt ihr Zuhause.
    Ich drehe mich zu Connor um. » Ja, lass uns fahren. Weit weg. Lass uns die Fähre in die Stadt nehmen.«

Kapitel 34

    E
ine halbe Stunde später sitzen wir an einem Tisch am Fenster auf der Fähre nach Seattle. Connor hat mir gegenüber Platz genommen und streckt die langen Beine unter dem Tisch aus. Wir schauen zurück zur Insel und betrachten den dichten Wald, der sich die Hügel hinunter erstreckt, und den schmalen, karamellfarbenen Strand.
    » Kormorane«, staunt er und deutet auf die anmutigen schwarzen Vögel, die sich auf einer Boje sonnen.
    » Du tust, als hättest du noch nie welche gesehen.«
    » Schon seit langer Zeit nicht mehr.«
    Ich setze mich neben ihn und kuschle mich an. Ich bin im Himmel. Wie sehr sich diese Überfahrt von

Weitere Kostenlose Bücher