Die Burg der Könige
von Schatten verdeckt. Kaum öffnet Agnes den Mund, lichten sich die Schatten und enthüllen ihr Geheimnis. Also schweigt sie lieber.
Instinktiv geht ihre Hand zur Brust und greift unter das zerrissene Hemd. Sie zieht ein kleines Anhängsel hervor, das an einer Kette baumelt. Es ist das Schmuckstück, das ihr der Kutscher Hieronymus vor seiner Flucht noch zugesteckt hat. Agnes denkt an seine hastig geflüsterten Sätze.
»Du darfst es nicht verlieren, hörst du? Gib es nur jemanden, dem du traust! Er soll es für dich aufbewahren.«
Die Blicke der Hexe fallen auf das Kleinod, und sie beugt sich zu Agnes hinunter, um das glitzernde Ding näher in Augenschein zu nehmen. Unwillkürlich zuckt sie zusammen, als wäre der Gegenstand glühend heiß.
Es ist ein Ring. Ein Siegelring mit dem Porträt eines bärtigen Mannes.
»Wo hast du das her?«, fragt die Hexe.
»Es … es ist von meiner Mutter«, antwortet Agnes, krächzend wie ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.
»Wo ist meine Mutter?«
Es sind ihre ersten Worte seit dem Überfall.
Mit einem leisen Schrei fuhr Agnes aus dem Schlaf hoch.
Wie so oft brauchte sie eine Weile, um zu begreifen, wo sie gerade war. Als sie das Klirren der Krüge und das Lachen der Männer draußen vor dem Karren hörte, fiel sie ermattet zurück auf die Schlafstatt. Doch ihr Atem raste, die Augen schmerzten vom Qualm des Buchenfeuers.
Sie hatte den Ring gesehen! Den Ring, den Parcival ihr letztes Jahr auf geheimnisvolle Weise gebracht hatte und der jetzt um Barnabas’ Hals baumelte. Sie hatte ihn als Kind schon einmal besessen! In der verqualmten Hütte der fremden Frau hing er damals an ihrem Hals.
Eine verqualmte Hütte?
Agnes zuckte zusammen. Endlich wurde ihr klar, warum sie in letzter Zeit so wild träumte. Es war keine Zauberei, es war allein der Rauch, der ihre Erinnerung gerade jetzt wie einen lange schlafenden Drachen geweckt hatte! Der dichte Rauch der Buchenscheite hatte sie an das seltsame Hexenhäuschen erinnert. Und bei den vorherigen Träumen waren es Barnabas’ Karren und das darin aufbewahrte frische Leder gewesen. Die Gerüche und Empfindungen führten sie zurück in ihre Kindheit! Nun erklärte sich auch, warum die Träume auf dem Trifels begonnen hatten, just als sie den Ring in den Händen hielt. Sie kannte ihn bereits von früher! Der Ring hatte Erinnerungen in ihr hochgespült, die verkrustet irgendwo in den Tiefen ihrer Seele gelegen hatten. Es war, als hätte sie einen dunklen Raum betreten, der lange Zeit verschlossen gewesen war.
Mit einem Mal erinnerte Agnes sich daran, was Pater Tristan ihr damals gesagt hatte.
Ich möchte dich um etwas bitten, was diesen Ring betrifft, Agnes. Trage ihn nicht am Finger und zeige ihn keinem Fremden! Versprichst du mir das?
Agnes biss die Lippen aufeinander. Welches Geheimnis barg der Ring? Und was war damals mit ihrer Mutter geschehen? Philipp von Erfenstein hatte immer behauptet, sie sei an einem Fieber gestorben. Doch ganz offensichtlich war sie damals bei einem Überfall ums Leben gekommen. Kurz zuvor hatte sie Agnes den Ring gegeben. Warum …
»He, Samuel!«, dröhnte plötzlich von draußen Barnabas’ tiefe Stimme und unterbrach ihren Gedankenfluss. Offenbar waren die Männer draußen immer noch beim Saufen. »Weck dieses faule Weibsstück im Karren. Sie soll uns was von ihrem gehorteten Branntwein abgeben. Bevor sie damit noch den Arsch vom Hurenweibel putzt!«
Die Männer johlten, und Agnes richtete sich auf, bevor Samuel ihr noch einen Tritt verpasste. Während sie vom Karren hinunterstieg, musterte sie beiläufig die Kette, die um Barnabas’ Hals hing und im Licht des Lagerfeuers fast magisch funkelte.
Es wurde Zeit, sich den Ring zurückzuholen.
Und Agnes hatte auch schon einen Plan.
***
Gegen Mittag des nächsten Tages wankte durch die Gassen von Mainz ein Mann, der Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Seine Kleidung war längst nicht mehr so gepflegt wie zu Beginn der Reise. Das Wams hatte Löcher, auf der zerrissenen Hose klebten Spuren getrockneten Bluts, und die angebrochenen Rippen schmerzten höllisch, aber wenigstens war er noch am Leben. Was man von vielen anderen, die in den letzten Wochen seinen Weg gekreuzt hatten, nicht behaupten konnte.
Die Menschen, die dem Mann begegneten, spürten, dass etwas Gefährliches von ihm ausging. Sie machten einen weiten Bogen und traten lieber in den stinkenden Morast der Gosse, als ihm zu nahe zu kommen. Diejenigen, die es dennoch
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