Die Burg
stochern.
«Bleibst du noch eben hier, Jupp?», hielt er Ackermann zurück. «Ich würde gern wissen, warum diese Leute auf der Ehrentribüne gestanden haben.» Er legte ihm ein Foto hin. «Vielleicht hast du ja eine Ahnung.»
Ackermann setzte sich wieder. Er hatte inzwischen den Kopfverband durch ein Pflaster ersetzt. «Lass ma’ gucken. Diese vier hier kennst du ja wohl, oder? Un’ dann haben wir hier die Hendricks, dat is’ die Vorsitzende vonne Städtepartnerschaft, Eva, heißt die, glaub ich. Dat hier is’ der Engländer, Connor hieß der wohl, der Doktor Pannier hat den doch extra vorgestellt. Un’ warte ma’ …» Ackermann schob die Brille auf die Stirn und hielt sich das Foto dicht vor die Augen. «Genau, dat is’ der Jürgen Kolbe, irgend so ’n Lehrer un’ außerdem Vorsitzender vom Sportausschuss bei de Stadt. Wat hatte der denn auf dem Podium zu suchen? Wollt’ sich wohl wichtig machen … Un’ hier haben wir die Marlies van Bentum, dat is’ die Chefin vom Heimatverein oder wie dat jetzt so schön heißt: Klevischer Verein für Kultur und Geschichte und Freunde der Schwanenburg e. V.» Er schüttelte den Kopf. «Die spinnen doch!» Dann sah er Toppe lange an. «Ich hätt’ nich’ gedacht, dat ich dich ma’ um deinen Job beneiden würd’, aber du kanns’ echt froh sein, dat du nich’ mit den ganzen Armleuchtern sprechen muss’. Ich hab vielleicht ’n Brass. Vermummte! Da passiert so wat Furchtbares, un’ jeder Heiopei meint, er könnt’ sich wichtig machen.»
Astrid nahm sich eine Stunde frei. In der Frühe hatte sie Katharina zu ihren Eltern gebracht und sich mit ein paar hastigen Erklärungen so schnell wie möglich verabschiedet. Sie wusste, dass sie in den nächsten Tagen wohl selten vor Mitternacht nach Hause kommen würde, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Eltern zu bitten, dass Katharina in nächster Zeit auch über Nacht bei ihnen bleiben konnte, und ihr graute davor. Nicht dass ihre Eltern etwas dagegen hatten, sie liebten ihre Enkelin, aber sie würden nicht mit ihrer Missbilligung über ihren «gefährlichen» Beruf und ihre augenscheinlich schwach ausgebildeten Muttergefühle hinterm Berg halten. «Wenn das Terroristen waren, dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass du vom Dienst freigestellt wirst», hatte ihr Vater ihr heute Morgen gedroht. «Du hast schließlich ein Kind.» – «Das haben andere auch», hatte sie nur lahm entgegnet und es vermieden, darauf hinzuweisen, dass er sich «höchstpersönlich» aus ihrem Leben herauszuhalten habe.
Die Innenstadt war voller Menschen, sie drängten sich sogar auf den Straßen, sodass sie nur langsam vorankam. Über der Burg kreiste ein Hubschrauber. Das musste van Gemmern sein, der Luftaufnahmen machte. An der Absperrung standen mehrere Übertragungswagen von Privatsendern, alle umgeben von Menschentrauben. Jeder schien hautnah dabei gewesen zu sein und wollte es zum Besten geben. Geier! Überall am Flatterband hatte man Blumensträuße abgelegt, Kerzen flackerten, sogar zuckersüße Kuscheltiere lagen da. Trauerdeponie! Es fehlten nur noch die Schilder mit dem schmerztriefenden «Warum?!». Der Exhibitionismus all dieser betroffenen Gutmenschen war von den USA über England – mit Schaudern erinnerte sie sich an den Tod der Prinzessin von Wales – nun auch zu ihnen herübergeschwappt. War das Trauer? Nein, wohl eher der plakative Versuch, das Schreckliche magisch aufzuheben.
Sie holperte eine Bordsteinkante hoch, hielt den Wagen auf dem Bürgersteig an und kurbelte das Fenster herunter. Sie bekam kaum Luft. Die Spurensicherung hatte mittags die ersten Tatortfotos aufgehängt, und sie wünschte, sie hätte sie nicht anschauen müssen. Blutige Körperteile, ein Fuß in einem makellos glänzenden Damenschuh und daneben Toni, der über Ruth lag, als wollte er sie mit seinem Körper schützen, sein aufgerissener Rücken.
Sie musste hier weg, nach Hause, Katharinas Sachen packen und irgendwie wieder auf die Reihe kommen, bevor sie ihren Eltern gegenübertrat. Jemand klopfte aufs Autodach und reichte ihr einen Handzettel durchs Fenster. Die Kirchengemeinden boten Sondergottesdienste für alle, die betroffen waren und Trost suchten. Prompter Service!
Am Nachmittag lag endlich der Laborbericht aus Düsseldorf vor: Der Sprengstoff war tatsächlich Semtex gewesen, die Zündladung hatte aus Kaliumchlorat mit Aluminium- und Magnesiumpulver bestanden, als Anzündsatz war Collodiumwolle
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