Die Burg
wolltet ihr eigentlich nach England zurückfahren?»
«Wir haben die Nachtfähre am Mittwoch gebucht, aber ob das klappt … John will auf jeden Fall mit deinem Chef sprechen. Ein paar von unseren Jungs müssen am Freitag wieder arbeiten, und deren Jobs sind nicht so sicher, als dass sie einfach wegbleiben können. Und die meisten Chefs werden nicht gerade begeistert sein, wenn sie hören, dass ihre Mitarbeiter in polizeiliche Ermittlungen verwickelt sind.»
«Bei dir wird das wahrscheinlich kein Problem sein, oder?»
«Nö, mein Chef findet es ganz wichtig, dass ich hier mitarbeite. Ich habe meinen Platz auf der Fähre schon storniert, ich bin ja unabhängig mit meinem Motorrad.»
Cox machte große Augen. «Du bist den ganzen Weg von England mit dem Motorrad gekommen?»
«Klar, war ein Supertrip.» Sie schmunzelte. «Du strahlst so, hast du auch eine Maschine?»
«Nein, leider, aber ich bin früher Autorallyes gefahren.»
«Cool!»
Toppe hatte die Pressefotos auf seinem Schreibtisch ausgebreitet und betrachtete eine Aufnahme der Ehrentribüne. Er erkannte Anton und Ruth, den Kammergerichtspräsidenten und den Stadtmanager. Wer die anderen fünf Leute waren und warum sie auf dem Podium gestanden hatten, wusste er nicht.
Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte. Mehr als einen halben Becher Kaffee hatte er heute Morgen nicht heruntergebracht, und er hatte immer noch keinen Appetit. Aber er wusste, dass er sich bald irgendetwas aus der Kantine würde holen müssen, bevor sich der drückende Kopfschmerz einstellte, den er immer bekam, wenn er vergaß zu essen.
Er nahm die Liste der Toten und Schwerverletzten aus dem Aktendeckel und legte sie neben das Foto. Ums Leben gekommen waren: Anton Pannier (52), Ruth Pannier (51) und Franz Hornung (51). Ihre Berufe waren angegeben – Chirurg, Autorin, Diplompsychologe –, nicht aber ihre Ehrenämter. Bei den Schwerstverletzten, die der Notarzt als T1 vermerkt hatte, war es genauso; Walter Lohmeier (62), Richter; Marlies van Bentum (55), Geschäftsfrau; Eva Hendricks (54), Hausfrau; James Connor (41), Schuldirektor; Sven Jäger (36), Stadtmanager, und Jürgen Kolbe (42), Lehrer. Es standen noch weitere vierundzwanzig Schwerverletzte auf der Liste, von denen gleichfalls jeder auf dem Podium gestanden haben konnte.
«Jupp», dachte er. Wenn einer die Leute auf dem Podium problemlos identifizieren konnte, dann war es Ackermann, und er würde vermutlich auch wissen, wie sie zu der Ehre gekommen waren, in der ersten Reihe zu stehen. Bei der Teamsitzung um 12 Uhr konnte er ihn fragen.
Ihm war kalt, er hatte kaum geschlafen. Gegen zwei Uhr war Katharina zu ihnen ins Bett gekommen und hatte es sich so gemütlich gemacht, dass ihm nur ein kleines Plätzchen am äußersten Bettrand geblieben war und er beim Aufstehen jeden einzelnen Knochen im Leib gespürt hatte. Er schaute auf die Uhr. Vielleicht sollte er einen Kollegen von der Opferhilfe zu Tonis und Ruths Haus schicken, deren Kinder mussten inzwischen angekommen sein. Jasper und Matthias studierten beide in Salzburg und teilten sich dort eine Wohnung. Er hatte noch gestern Nachmittag dafür gesorgt, dass die Kollegen vom Müllner Revier den Jungen die Todesnachricht überbrachten. Auch zu Franz Hornungs Familie, die in Materborn wohnte, hatte er einen Beamten geschickt, aber er hatte noch keine Zeit gefunden, mit dem Kollegen zu sprechen.
Das Schwein lebte!
Er stolperte zum Bett, fiel hart auf die Knie und hustete sich die Seele aus dem Leib.
Das verfluchte Schwein lebte!
Hatte ihm mitten ins Gesicht gestarrt, nur ein Schluchzen lang, war dann weitergerannt – weg, weg – wie alle.
Er hatte ihn nicht erkannt!
Das Schwein pulverisieren. Sein Kopf dröhnte.
Es klopfte.
«Ist alles in Ordnung mit Ihnen?» Die Zimmerwirtin. «Kann ich Ihnen helfen?»
Er biss die Zähne zusammen, richtete sich auf. «Ja, alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen.»
Er hielt die Luft an – sie war gegangen.
Das Schwein hatte auf der Tribüne gestanden, genau wie Chris gesagt hatte.
Und dann war ihm dieses Kind zwischen die Beine gestolpert.
Schwerfällig stand er von den Knien auf und taumelte zum Waschbecken.
Im Spiegel war er derselbe.
Er nahm das Seifenstück, schäumte Hände, Unterarme, Nacken, Hals und Gesicht ein, wartete mit zusammengekniffenen Augen, bis das Wasser aus dem Hahn endlich kalt wurde, und spülte alles ab.
Als Erstes musste er raus
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