Die Burg
Angehörigen hier aufgekreuzt sind und Rabatz gemacht haben. Einmal ging es um eine alte Oma, die angeblich in der Badewanne ausgerutscht war, wo die Verletzungen aber eher so aussahen, als wäre sie gestoßen worden. Und das andere Mal ging es um einen Mann, der sich aus Versehen in der Sauna eingeschlossen haben sollte und da drin erstickt oder verkocht war.»
«Wie lange ist das her?»
«Mindestens fünfzehn, sechzehn Jahre. Ich weiß allerdings nicht, ob die Polizei damals etwas unternommen hat.»
«Das lässt sich herausfinden, wenn wir ein ungefähres Datum haben. Können Sie sich an Namen erinnern?»
«Da müsste ich nachdenken … Aber es gab noch etwas. Es hat tatsächlich einmal Ärger gegeben, mit Anwalt und allem, ist noch gar nicht so lange her, 98, 99, vielleicht. Es ging um ein kleines Mädchen, das sich den Arm gebrochen hatte, angeblich die Treppe runtergefallen, aber für Toni sah das Ganze nach Kindesmisshandlung aus. Ich glaube, er hat sogar vor Gericht aussagen müssen. Den Namen von dem Kind weiß ich noch gut – Pia Heiligers –, war so eine Verhuschte, sechs oder sieben Jahre alt.»
Penny Small stand auf der Brücke und schaute einem Schwanenpaar zu, das hochmütig durch das ruhige Wasser des Kanals glitt. Sie war im Büro des Stadtmarketings gewesen und hatte sich danach ein Zimmer in einem kleinen Hotel besorgt. Ihr Zelt war mit der Militia auf dem Rückweg nach England, und sie brauchte schließlich ein Dach über dem Kopf, bis Matthew freikam. Heute Morgen hatte sie noch einmal mit ihm gesprochen, und sie konnte sich nicht mehr vorstellen, dass er tatsächlich der Bombenleger war. Sie schaute hoch zum freundlichen Gesicht des Schwanenturms und schulterte ihren Rucksack. Die meisten ihrer Sachen hatte sie mit zurück nach England geschickt und nur das Notwendigste behalten. Wenn sie noch länger blieb, musste sie neue Kleidung kaufen. Und sie würde gern noch bleiben. In der Fußgängerzone waren trotz des kalten Nieselregens eine Menge Leute unterwegs. Sie würde irgendwo eine Tasse Tee trinken und dann zum Präsidium zurückschlendern; ihr Boss erwartete ihren Anruf pünktlich um drei Uhr Ortszeit.
Sie mochte diese Stadt, mochte ihr Tempo, nicht zu hektisch, aber auch nicht zu gemächlich, ganz ähnlich wie in Worcester eigentlich. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, nach Deutschland zu gehen, aber jetzt …
Bernie Schnittges war für seine grenzenlose Geduld bekannt, und heute kam ihm diese Tugend wieder einmal zugute. Der orthopädische Schuhmacher gehörte zu den besonders hilfsbereiten Mitmenschen.
«Na, dann wollen wir mal schauen», meinte er munter, nahm den Schuh in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. «Hat der was mit dem Blutbad an der Burg zu tun?» Flinke Mäuseaugen.
«Das tut eigentlich nichts zur Sache», brummelte Bernie.
«Auch wieder wahr. Also, ich würde sagen, der Träger dieses Schuhs hat eine Fehlstellung nach einer distalen Unterschenkelfraktur. Und zwar ist der Bruch in einer Valgus-Fehlstellung verheilt.» Er blinzelte Schnittges über seine Lesebrille hinweg an. «X-Bein, Sie verstehen? Das kann man an der Außenranderhöhung sehen.»
«Ach so.»
«Des Weiteren scheint als Unfallfolge eine Beinverkürzung vorzuliegen, denn wir haben hier eine Schuherhöhung von, warten Sie mal …» Er holte ein Maßband unter der Theke hervor. «Genau 1,2 Zentimetern. Und sehen Sie sich den Schuh genau an, sehr hoch, ziemlich plump, meinen Sie nicht?»
«Doch, doch.»
«Das kann eigentlich nur bedeuten, dass eine Schwellneigung vorliegt. Also, ich würde sagen, außer dem Unterschenkelbruch lag auch noch eine Fußfraktur vor, die zu einer leichten Klumpfußbildung geführt hat.»
«Beeindruckend», sagte Schnittges, «das ist ja wirklich eine Wissenschaft für sich.»
«Was haben Sie denn gedacht?», gab der Schuhmacher schnippisch zurück.
«Mir gefällt das, wenn ein Mensch so viel von seinem Handwerk versteht. Sie würden sich wundern, wie selten man heutzutage so etwas noch findet. Sie haben doch bestimmt eine Kundenkartei.»
«Selbstverständlich, was denken Sie?»
«Dann können Sie doch sicher herausfinden, für welchen Kunden Sie diesen Schuh angefertigt haben.»
«Ich?» Der Mann war sichtlich beleidigt. «Aber dieses Ding hier habe doch nicht ich angefertigt!»
Bernie spürte, wie sein Nacken zu kribbeln begann.
«Die Handschrift ist allerdings eindeutig.» Der Schuhmacher lachte tonlos. «Ich kann Ihnen genau
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