Die Burg
dreizehn Nachtdienste im Monat schiebst. Ich mit meiner popeligen Ausbildung und meiner geregelten Arbeitszeit verdiene ja schon mehr als ein Assistent im dritten Jahr, und ich muss keine Familie ernähren. Könnte ich auch gar nicht, wenn ich nur 1800 Euro im Monat hätte. Wie denn?» Sie schlug die Hand vor den Mund. «Meine Güte! Bitte, entschuldigen Sie, aber … mein Freund ist Arzt am Krankenhaus in Bocholt, und eigentlich wollen wir Kinder …»
«Ich verstehe schon», sagte Astrid und suchte nach einer Überleitung, aber die Frau kam ihr zuvor. «Es geht um das Bombenattentat, oder? Haben wir im Fernsehen gesehen, und es stand ja auch in der Zeitung, dass Dr. Pannier dabei umgekommen ist. Ich dachte gerade, wenn jemand hier noch etwas über ihn weiß, dann vielleicht … Wir haben eine Ambulanzschwester, die schon seit dreißig Jahren an der Klinik ist.»
«Aber bestimmt nicht freiwillig», ließ sich eine raue Stimme von der Ambulanz her vernehmen. Am Türrahmen lehnte eine dünne Frau von Ende fünfzig, mausfarbenes Haar, lebhafte blaue Augen, über der Schwesterntracht eine ausgeleierte blaue Strickjacke, aus deren Taschen sie jetzt Zigaretten und Feuerzeug holte. Sie zündete sich eine an und inhalierte genüsslich mit zurückgelegtem Kopf. «Aah! Schwester Lissy», stellte sie sich vor, «das Phantom der Ambulanz. Als ich hier anfing, hat man noch Angelernte eingestellt – Schwesternmangel –, und das waren, weiß Gott, nicht die Schlechtesten. Ich habe nie ein Examen gemacht, deshalb bin ich noch hier, ich kann ja gar nicht wechseln. Sie sind von der Kripo?»
Astrid zog erstaunt die Augenbrauen hoch, und Lissy lachte. «Hier haben die Wände Ohren, Frau Kommissar. Also gut, wenn Sie etwas über Toni Pannier wissen wollen, dann kommen Sie mit.» Sie stieß sich vom Türrahmen ab und drehte sich um. «Ich mache Pause!»
«Bist du bescheuert?», schimpfte ein Mann zurück. «Du siehst doch, was heute los ist!»
«Bin im Gipsraum», rief sie nur und winkte Astrid, ihr zu folgen.
Der Gipsraum war ein schmales Zimmer mit einem kleinen Fenster, Metallschränken, von denen der Lack abblätterte, und träge summenden Neonleuchten.
Lissy schob Astrid einen Metallhocker hin, holte eine Nierenschale von der Fensterbank, in der sie die Asche abstreifte, und setzte sich auf die Untersuchungsliege, deren schwarzer Kunstlederbezug spröde und rissig war.
«Toni», sagte sie, bevor Astrid irgendetwas fragen konnte, «war ein Doktor vom alten Schlag, Arzt mit Leib und Seele. Für ihn stand der Patient immer an erster Stelle. Aber für solche Leute ist heute kein Platz mehr, ist ja alles kaputtverwaltet worden. Ohne Not wäre Toni niemals gegangen, und damit meine ich nicht Geld, sondern wie sich alles so schlimm verändert hat.» Sie drückte die Zigarette in der Nierenschale aus und zündete sich gleich eine neue an. «Was soll’s? Das kann man sowieso keinem erklären, der nicht drinsteckt. Und Toni –» Da war eine Menge Trauer in ihren Augen.
Astrid räusperte sich. «Ich habe ihn auch ganz gut gekannt, seine ganze Familie …»
«Und Sie glauben, dass die Bombe Toni gegolten hat?», fragte Lissy unvermittelt.
«Wir können es zumindest nicht ausschließen», antwortete Astrid. «Möglicherweise hat sich ein Patient an ihm rächen wollen. Wissen Sie, ob Toni irgendwann einmal Probleme mit Patienten hatte?»
Lissy fegte ein paar Ascheflocken von ihrer Strickjacke. «Sie meinen, ob jemand Toni wegen eines Kunstfehlers angezeigt hat?» Sie lachte kurz auf. «Nein! Aber es gibt natürlich immer unzufriedene Patienten. Wissen Sie, viele Leute glauben, die Chirurgie ist so etwas wie eine Reparaturwerkstatt. Wenn was kaputt ist, baust du einfach ein Ersatzteil ein, und fertig ist die Laube, alles wieder genau so wie vorher. Das kann natürlich nicht immer so sein, schließlich geht es um den menschlichen Körper und nicht um eine seelenlose Maschine.»
«Das ist mir schon klar», sagte Astrid. «Aber gab es konkrete Probleme?»
Lissy hörte ihr nicht zu. «Toni ist ja auch jahrelang Notarztwagen gefahren», sagte sie nachdenklich, «und da gibt es auch immer mal wieder Angehörige, die finden, der Doktor hätte nicht lange genug reanimiert, aber das trifft ja auf jeden Notarzt zu. Toni hatte allerdings eine Marotte: Er hat schon mal gern die Kripo gerufen, wenn die Todesursache unklar war.»
«Bei einem Notarzteinsatz?»
«Ja, genau. Ich kann mich an zwei Fälle erinnern, weil hinterher die
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