Die Burg
degenerative Beschwerden und keine direkten Unfallfolgen. Und nur solche erkennt die Berufsgenossenschaft an. Das ist zwar oft tragisch, aber leider die Rechtslage. Ein Gutachten, wie Lahm es sich wünscht, konnte Toni gar nicht erstellen. Aber das sieht der Kerl einfach nicht ein, er kommt jedes Mal wieder mit neuen Ideen. Dabei könnte es ihm viel besser gehen, wenn er sich noch einmal operieren ließe, und das hat Toni ihm auch gesagt. Aber davor hat Lahm anscheinend panische Angst.»
«Ist dieser Lahm irgendwann mal aggressiv geworden?», fragte Astrid.
«Aggressiv? Ach, na ja, in letzter Zeit schon mal ein bisschen laut, aber nicht so, dass ich mich hätte einmischen müssen. Damit kam Toni prima klar, er konnte an der richtigen Stelle selbst schon mal laut werden.» Er verstummte und presste für einen Moment die Fäuste gegen die Augen, dann runzelte er die Stirn. «Ach so, Sie meinen, dieser Lahm … Der und eine Bombe? Dieser arme Wicht? Kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, dann hätte er Toni doch hassen müssen, und das war nicht so. Er hat ihn vielleicht als seinen letzten Ausweg gesehen, aber gehasst, nein, bestimmt nicht.»
Astrid schaute Bernie an. Der zuckte die Achseln. «Ich würde ihn auch nicht so einschätzen. Der ist nicht gerade das hellste Licht am Tannenbaum. Na, wie auch immer, ich knöpfe ihn mir gleich noch einmal vor.»
Sie verabschiedeten sich.
«Hübsches Städtchen», meinte Schnittges, als sie auf die Straße traten. «Ich hatte keine Ahnung, dass es in dieser Gegend so etwas gibt: mittelalterlicher Marktplatz wie aus dem Bilderbuch. Ich habe dort eben ein Eiscafé entdeckt, sah ganz nett aus. Hast du Lust auf eine kleine Pause? Ich lade dich ein.»
Astrid schaute auf die Uhr. «Na gut, eine halbe Stunde, danke.»
Zehn Minuten später saßen sie an einem Bistrotisch, und Astrid nippte an einem Milchkaffee, während Bernie sich über einen Amarenabecher hermachte.
«Es ist wichtig, dass man sich zwischendurch mal eine kurze Auszeit nimmt und abschaltet», sagte er, «gerade in unserem Job.»
Astrid neigte zweifelnd den Kopf. «Und das kannst du so einfach?»
Bernie grinste. «Nicht wirklich, aber ich gebe mir redlich Mühe. Diese Geschichte hat’s aber auch in sich. Seit viereinhalb Tagen arbeiten zwanzig Leute unter Hochdruck, und bis jetzt scheinen wir nicht einen Meter weiter zu sein.»
«Dieser Herbert Lahm», überlegte Astrid, «wenn er Anton tatsächlich als seinen letzten Ausweg betrachtet hat, wie Koch meint, dann würde er ihn doch wohl kaum ins Jenseits befördern.»
«Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Auf mich wirkte der wie einer, der eher Hand an sich selbst legt, als um sich zu schlagen, aber ich bin kein Psychologe. Willst du mitkommen?»
«Geht nicht, leider.» Astrid winkte der Kellnerin. «Ich habe endlich diesen Heiligers ausgemacht, der damals seine Stieftochter misshandelt haben soll. Er wohnt jetzt in Westfalen, in der Nähe von Ahlen, arbeitet dort bei der Stadtreinigung.»
«Ahlen? Da war ich schon mal. Von hier aus eine endlose Gurkerei über die Landstraße», sagte Bernie mitfühlend.
Toppe hatte inzwischen herausgefunden, wo sich die Patienten, die Hornung Rache angedroht hatten, heute aufhielten. Am liebsten hätte er sich gleich selbst auf den Weg gemacht, aber er wurde hier vor Ort gebraucht, auch wenn ihm das noch so sehr gegen den Strich ging. Wen aus der Soko konnte er losschicken? Auf keinen Fall einen allein. Das Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Grübeleien. Es war Bärbel Tervooren.
«Ich habe es bisher nur handschriftlich», sagte sie und legte ein dickes, in Leder gebundenes Notizbuch auf den Tisch, «aber ich dachte, du willst die Ergebnisse so schnell wie möglich. Wir sind so gut wie durch mit allen Opfern, die auf der Ehrentribüne gestanden haben.»
Sie wirkte vollkommen ausgeruht und frisch, und Toppe fragte sich, wie sie das hinbekam.
«Na, dann leg mal los», sagte er viel munterer, als er sich fühlte.
«Also gut», begann sie. «Als Erstes haben wir hier die Vorsitzende vom Heimatverein, Marlies van Bentum, 55 Jahre alt. Sie liegt im Krankenhaus in Goch, hat eine Rippenserienfraktur und Probleme mit der Lunge. Sie hat einen Feinkostladen in der Klever Innenstadt, von ihren Eltern übernommen – seit etlichen Generationen im Familienbesitz, wie sie betonte. Van Bentum ist ledig, keine Kinder. Typ alte Jungfer, aber aus Überzeugung. Weit und breit keine Feinde. Dann Eva Hendricks, 54 Jahre
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