Die Burg
wirklich eine echte Bombe?» Herbert Lahm hatte die Stimme gesenkt.
«Echt genug.»
«Terroristen in Kleve.» Lahm schüttelte den Kopf. «Was soll das bloß? Hier gibt es doch nichts.»
Die Gemeinschaftspraxis war wegen des Trauerfalls die ganze Woche geschlossen, aber Edwin Koch, Anton Panniers Partner, war heute für zwei Stunden gekommen, um die Patienten, die in der vergangenen Woche operiert worden waren, nachzuuntersuchen.
Als Astrid ankam, verabschiedete er sich gerade von einer jungen Frau, die eine Gipsschiene am linken Arm hatte.
«Das war’s für heute», sagte er und schüttelte Astrid die Hand. «Lassen Sie uns nach oben gehen.» Koch war aufgewühlt und traurig, aber seine Bewegungen und die flinken braunen Augen verrieten, dass er ein agiler Mann war, der nicht lange stillsitzen konnte.
«Der Anschlag soll Toni gegolten haben?», fragte er ungläubig. «Im Leben nicht! Da hätte ich mir eher vorstellen können, dass Toni jemanden in die Luft jagt – die AOK zum Beispiel.»
«Die Kassen kürzen an allen Ecken und Enden», erklärte er. «Unsere Einnahmen sind seit dem letzten Jahr um dreißig Prozent gesunken. Für mich ist das nicht ganz so schlimm, ich bin ledig und habe keine Kinder, aber für Anton mit den beiden Jungen in der Ausbildung und den Hypotheken wurde es richtig eng.»
«Man liest ja so einiges», sagte Astrid, «aber dass es so dramatisch ist, habe ich nicht gewusst.»
«Natürlich nicht! Was liest man denn? Die armen Ärzte verdienen weniger Geld, ach Gott, da müssen sie doch tatsächlich auf ihren Drittwagen verzichten und das Golfspielen aufgeben, nein, wie schrecklich! Dass es uns an die Existenz geht, weiß keiner, will auch keiner wissen. Etliche Kollegen fliegen jedes Wochenende nach England und machen dort Notdienst. Das bringt immerhin so viel ein, dass sie ihre Praxen halten und ihre Familien ernähren können. Und dann wirft man uns auch noch vor, dass wir gern Privatpatienten behandeln. Das sind die Einzigen, bei denen wir etwas verdienen, und das ist wenig genug.» Er hielt inne. «Na ja, deswegen sind Sie bestimmt nicht hier.»
Auf Astrids Fragen konnte er nur immer wieder den Kopf schütteln. Toni hatte keine Feinde gehabt, seine Patienten hatten ihn gemocht, er war jemand gewesen, der wunderbar mit Menschen umgehen konnte. Und überhaupt, ein Bombenleger, ein Massenmörder, so jemanden kannten sie nicht.
Unten in der Praxis klingelte es, dann hämmerte jemand gegen die Tür.
«Wollen Sie nicht nachschauen gehen?»
«Nein», sagte Koch energisch. «Wir haben geschlossen, das kann jeder lesen.»
Astrids Handy klingelte. «Entschuldigung», sagte sie und meldete sich. «Bernie? Ach, du bist das! … Ja, okay, sofort.»
Sie lächelte Koch an. «Der Poltergeist da unten ist ein Kollege von mir, der auch ein paar Fragen an Sie hat.»
Koch lief nach unten, um Schnittges hereinzulassen. Der kam schweren Schrittes heraufgestapft, rotglänzende Wangen. Koch musterte ihn. «Möchten Sie ein Glas Wasser?»
«Nein danke, ist schon in Ordnung. Ich sehe immer so aus, Erbmasse.» Er warf Astrid einen fragenden Blick zu. «Wenn ihr mitten im Gespräch seid, hocke ich mich auf die Treppe und warte. Ich will nicht stören.»
«Lass mal», antwortete sie. «Wir waren eigentlich durch.»
Schnittges ließ sich auf den Stuhl fallen, den Koch unter dem Tisch hervorgezogen hatte, und packte seinen Block aus. «Ich komme gerade von einem von Panniers Patienten, einem gewissen Herbert Lahm.»
«Lahm», sagte Koch nachdenklich und kniff sich in die Nase. «An den hatte ich gar nicht gedacht.»
Schnittges berichtete, was Lahm ihm erzählt hatte, und Koch nickte. «Ein armes Schwein, wirklich. Aber in den letzten Monaten ist er zu einer echten Plage geworden, steht jede Woche bei Toni auf der Matte und versucht, ihn totzulabern. Die Gutachter haben damals seine Invalidität bei 30 % eingestuft. Das war auch ganz in Ordnung so. Aber mittlerweile, nach fünfzehn Jahren Beinverkürzung, hat der Mann natürlich Folgeschäden, Schmerzen im Rücken durch die Fehlhaltung und, und, und. Jetzt ist er auf ein neues Gutachten aus, das ihm 50 % Invalidität bescheinigen soll – dann würde er nämlich die volle Berufsunfähigkeitsrente bekommen und wäre seine finanziellen Sorgen los. Und Toni soll … sollte ihm diese Gutachten erstellen. Wir haben öfter solche Fälle, und den Patienten ist die Sachlage meistens nur schwer beizubiegen. Die Probleme, die Lahm heute hat, sind
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