Die Burg
geht um Macht, grenzenlose Gier, Allmachtsgefühle und gleichzeitig um Ohnmacht und Minderwertigkeit.»
«Ja, aber was ist das für ein Mensch? Wer macht so etwas Grauenhaftes?»
«Mit der Frage kommen Sie nicht weiter, weil es eine moralische Frage ist. Mit den Kategorien Moral und Gewissen kommt man dem Täter nicht nahe. Die Frage muss sein: Wie denkt dieser Mensch? Normalerweise gelingt es uns, mit persönlichen Niederlagen, mit den Unbilden des Lebens fertig zu werden. Bei dem Attentäter hingegen liegt infantiles Denken vor. Das heißt: Ich erlebe eine Niederlage und verurteile den anderen zum Tode; mir passiert etwas, und daraus folgt automatisch Rache. Hinter dieser Tat steckt ein enormer Hass, der nur durch einen ebensolchen Größenwahn beantwortet werden kann. Ich denke, dass dieser Hass aus einem vollkommenen Ausgeliefertsein entstanden ist.»
Cox trank den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse ab. «Könnte die Tat also die Antwort auf irgendein Trauma sein, das der Täter kürzlich erlebt hat?»
«Nein», antwortete Nagel bestimmt. «Der ursprüngliche Schaden muss länger zurückliegen – ein frühkindliches Trauma. Der Täter hat kein ausgereiftes Gewissen. Für ihn gibt es nur ganz gut oder ganz böse, das strikt voneinander getrennt ist. Und ich könnte mir vorstellen, dass er auch zu selbstzerstörerischen Handlungen neigt: Tattoos, Piercings, Schnitte, Verstümmelungen.»
«Hm.» Cox überlegte. «Für den Täter ist ein anderer Mensch nur gut, wenn er genauso funktioniert, wie der Täter es will.»
«Richtig», bestätigte Nagel, «und wenn nicht, ist der andere ein Schwein und zum Abschuss freigegeben.»
«Im Augenblick gehen wir davon aus, dass der Attentäter es nur auf eine einzelne Person abgesehen hatte», sagte Cox. «Ist das vorstellbar?»
«Durchaus.»
«Und wenn diese Person überlebt hat, würde der Täter es dann noch einmal versuchen?»
«Davon können Sie ausgehen. Und es muss nicht zwangsläufig eine Bombe sein.»
Wieder umziehen.
«Das gehört dazu, wenn du Karriere machen willst, mein Sohn.»
Offizier bei der Royal Air Force.
Alle drei Jahre wieder weg, wieder eine neue Schule, neue fiese Typen, neue Scheißlehrer.
«Und der Köter kommt nicht mit! Für den ist kein Platz.»
Bobo?
Der Alte drückt ihm den Spaten in die Hand. «Geh ein Stück von den Häusern weg. Es muss nicht jeder mitkriegen.»
Er hört gar nicht hin, nimmt den Terrier auf den Arm, gräbt seine Nase ins Nackenfell.
Sein Alter fasst zu, umklammert sein Kinn und starrt ihn an. «Es ist dein Hund. Abendessen ist um halb sieben.»
Und die Alte steht dabei, sagt nichts. Ist wie immer gar nicht da.
Abends legt sie ihm eine Tafel Schokolade auf das Kopfkissen.
Ein Sofa, ein Resopaltisch, zwei Stühle, ein Fernsehapparat, mehr passte nicht in das kleine Zimmer, in das Herbert Lahm Bernie Schnittges führte.
«45 qm insgesamt», sagte der Mann, als er bemerkte, wie Schnittges sich umschaute, «mehr steht mir nicht mehr zu. Das Schlafzimmer ist noch kleiner.»
Ein gebeugter Mann, grau, genauso staubig wie seine Wohnung. Er hinkte und hatte offensichtlich Schmerzen, als er sich aufs Sofa setzte. Schnittges wählte einen der Stühle und stellte den Beutel mit dem Schuh auf den Tisch. «Das ist also Ihr Schuh, haben Sie gesagt?»
«Sieht wohl so aus.»
«Wann und wo haben Sie ihn verloren?»
«Am Sonntag an der Schwanenburg.» Lahm saß sehr gerade, lehnte sich nicht an. «Als die Bombe hochgegangen ist und ich weggerannt bin.»
«Und wieso haben Sie sich nicht bei uns gemeldet? Das Foto dieses Schuhs mit einem entsprechenden Aufruf hat in allen Zeitungen gestanden.»
Lahm schob die Hände zwischen die Knie. «Ich kriege schon lange keine Zeitung mehr.»
«Aber Sie sind doch auf diesen Schuh angewiesen, oder sehe ich das falsch?»
Der Mann schaute auf seine Füße. «Ich hab ja noch das alte Paar hier. Ich wollte den neuen Schuh gar nicht wiederhaben, er hat ziemlich gedrückt. Deswegen hab ich ihn ja auch verloren, ich hatte die Schnürbänder offen.»
«Und das Rezept für Ihre Schuhe hat Dr. Pannier ausgestellt?»
«Ja, schon seit Jahren.»
«Tja», sagte Schnittges, «jetzt müssen Sie sich wohl einen anderen Arzt suchen.»
«Wieso?» Lahms Augen blickten trübe.
«Weil Anton Pannier bei dem Attentat ums Leben gekommen ist.»
«Das gibt es doch gar nicht. Das ist ja furchtbar!»
«Sie haben es nicht gewusst?»
«Nein, ich komm nicht mehr viel unter
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