Die Cassini-Division
Staumauer weit im Osten, eine einsame Linie silbriger Punkte in
der Überschwemmungsebene der Themse; Hyde Park mit der
historischen Speaker’s Corner, wo das Mahnmal des
Unbekannten Sozialisten hundert Meter über die Baumwipfel
aufragte und mit dem Hochmut des Siegers auf die verfallenen oder
verfallenden Hochhäuser der City blickte; und als das
Luftschiff wendete und allmählich zu sinken begann, auf
unser Ziel, die stolzen Masten von Alexandra Port.
Beim Anblick von Alexandra Port sträubten sich mir die
Nackenhaare. Der Flughafen war früher eine Hochburg der
Weltraumbewegung gewesen, der gemeinsamen Ahnin der
Außenweltler und unserer Division; es lebten noch Menschen,
deren Reise in den Weltraum in überfüllten Sälen
begonnen hatte, in denen sie auf eine Luftschiffverbindung zu den
Startrampen in Guinea und Kasachstan gewartet hatten. Die
Anlegemasten waren ihre Freiheitsstatue, ihr Ellis Island.
Oder ihre Botany Bay. Ich grub die Fingernägel in die
Handballen. Dann wandte ich mich ab und machte mich fertig zum
Aussteigen.
*
Das Luftschiff senkte sich mit summenden Motoren aufs
Flachdach des Terminals hinab. Eine Treppe wurde zum Ausgang
gerollt, und wir marschierten alle nach draußen. Zwei, drei
Wartungstechniker gingen an Bord und überprüften die
Systeme; die Flugautomatik erledigte zwar alles von selbst, doch
der Flugverkehr hat offenbar etwas an sich, was die Gewohnheit,
alles persönlich zu beaufsichtigen, wach hält.
Vom Dach des Terminals genossen wir fast einen Panoramablick
auf London, dessen Hügel vom Qualm der Holzfeuer in Dunst
gehüllt waren. Hin und wieder ragte ein Hochhaus aus den
Bäumen hervor, dessen Stahl und Beton die nun schon
zweihundert Jahre währende Vernachlässigung
überstanden hatte, oder es öffnete sich eine breite
Straßenschneise. Im Osten ging Lee Water in die
Hackney-Sümpfe über, in der Ferne funkelte die Themse.
Auf den nahen Hügeln im Westen waren die verfallenen
Überreste der alten Backsteingebäude und Straßen
gerade eben noch zu erkennen.
Es war ein weit verbreiteter Irrtum – den
öffentlich zu korrigieren offen gesagt niemand von uns
für politisch opportun gehalten hatte, obwohl die Fakten
für jeden, der Augen im Kopf hatte, unübersehbar waren
–, dass der Grüne Tod einem einzelnen, von einer
Grünen-Faktion in einem Anfall von Vernichtungswut
gentechnisch hergestellten Virus zuzuschreiben sei.
Gründlichere epidemologische Forschungen hatten ergeben,
dass es sich in Wirklichkeit um mehrere verschiedene Krankheiten
wahrscheinlich natürlichen Ursprungs gehandelt hatte, die
alle gleichzeitig aufgetreten und von Soldaten, Flüchtlingen
und Siedlern verbreitet worden waren. Für die sozialen
Wirren und das geschwächte soziale Immunsystem der Medizin
und Wissenschaft waren teilweise tatsächlich die Grünen
Banden und ihre zahlreichen Verbündeten und Vorläufer
verantwortlich, deren Wurzeln weit in das vorige Jahrhundert des
Irrationalismus und Antihumanismus zurückreichten. Die
panikartige Aufgabe der Städte, die als Seuchenherde galten,
war teilweise Folge dieser Denkweise gewesen und hatte
wahrscheinlich mehr Tote nach sich gezogen als die Seuchen.
Obwohl die Grünen geringere Schuld an den Milliarden Toten
hatten, als allgemein angenommen wurde, fällt es mir
gleichwohl schwer, wegen der so genannten ›Exzesse‹
nach der Befreiung jemandem Vorwürfe zu machen. (Die
Hinrichtungszahlen wurden jedenfalls von übereifrigen
örtlichen Komitees übertrieben. Weltweit gab es nicht
mehr als hunderttausend Exekutionen. Höchstens. Ganz
ehrlich.)
Die Langzeitfolgen des Grünen Tods betrafen weniger die
Bevölkerungszahl – die nach der sozialen Revolution
stark zurückging, sich mittlerweile aber, Gott sei Dank,
wieder ganz gut erholt –, sondern vielmehr die
Bevölkerungsverteilung. Die meisten alten Metropolen blieben
auch dann noch unbewohnt, als es sich schon wieder sicher darin
leben ließ. Man überließ sie frohgemut und
durchaus folgerichtig denen, welche die neue Gesellschaft
ablehnten und eine Neuauflage der alten vorzogen.
Auch das Land verwandelte sich wieder in eine Wildnis, denn an
die Stelle der Landwirtschaft traten Aquakulturen, Hydroponik und
künstliche Fotosynthese. Den NiKos überließ man
es weniger gern als die alten Städte, denn es wurde von den
Bewohnern der dicht bevölkerten Unionshabitate wegen seines
Erholungswerts geschätzt.
Alexandra Port
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