Die Champagnerkönigin
zählte zwanzig Hühner und zwei Hähne, die in einem Freigehege nach Futter pickten. In dem Gehege gab es außerdem einen Stall, in dem die Tiere wahrscheinlich die Nacht verbrachten. Sie öffnete dessen Tür, und sofort schlug ihr ein säuerlicher Geruch entgegen, den Isabelle jedoch ignorierte. Vorsichtig tastete sie mit ihrer Hand in den mit Stroh ausgelegten Hühnernestern herum. Ein Ei! Und noch eins! Und da – noch eins. Freudestrahlend sammelte sie zwölf Eier ein und legte sie in eine Schüssel, die sie auf einem Brett neben der Tür entdeckte. Ihr Mittagessen war damit schon einmal gesichert.
Motiviert durch dieses Erfolgserlebnis ging Isabelle weiter. Der nächste Verschlag, den sie inspizierte, war ein Stall, sie nahm an, dass darin Schafe gehalten wurden. Doch er stand leer, niedergetrampeltes und völlig verdrecktes Stroh bedeckte den Boden. In der Wand fehlten etliche Latten, andere baumelten lose herab. »Reparatur Verwalter«, schrieb Isabelle auf ihre Liste. Doch dann besann sie sich eines Besseren, strich die beiden Wörter durch und schrieb stattdessen »Hammer und Nägel« auf. Selbst war die Frau – am besten ließ sie sich so bald wie möglich von Claude Bertrand zeigen, wie man mit dem Werkzeug umging. Wenn ihre Freundin Josefine in Berlin es schaffte, Fahrräder zu reparieren, würde sie doch wenigstens ein paar Nägel ins Holz hauen können, oder? Leon wollte sie damit nicht behelligen, er sollte sich voll und ganz auf den Champagnerverkauf konzentrieren. Solange es kein Personal gab, würde sie so viele Alltagsaufgaben wie möglich selbst erledigen, dachte Isabelle, während sie auf das nächste Stallgebäude zuging. Dort waren die Pferde untergebracht. Der obere Teil der zweigeteilten Tür stand offen, neugierig schauten zwei hübsche Braune heraus. Als Isabelle die Hand hob, um eins der Pferde zu streicheln, schlug es hart und fordernd mit einem Vorderhuf gegen die Stalltür. Isabelle schrak zusammen. Das Pferd trat erneut gegen das Holz.
»Was ist denn, willst du nach draußen? Oder hast du Hunger?« Suchend schaute sie sich um, doch das Gras in ihrer Umgebung war noch zu kurz, als dass sie ein Büschel davon hätte abreißen können. Dafür entdeckte sie in der Scheune neben dem Stall ein paar Heuballen. Sie zupfte einen Arm voll Heu heraus und brachte ihn den Pferden, die dies mit einem Wiehern quittierten. Stirnrunzelnd schaute sie zu, wie sich die Tiere mit angelegten Ohren gegenseitig das Futter streitig machten. Hatte der Verwalter die Viecher noch nicht gefüttert? Es war doch immerhin schon nach neun Uhr.
Claude Bertrand wohne in einem Haus am Ende des Grundstücks, hatte Leon am Vorabend erwähnt. Isabelle konnte das Haus von ihrem Standort aus sehen, es war zwar klein, machte aber einen soliden, wenn auch etwas ungepflegten Eindruck, so wie das ganze Anwesen. Es gab zwar keinen offensichtlichen Verfall, aber wenn man genauer hinschaute, entdeckte man hier ein kleines Loch im Zaun vom Hühnergehege, da eine lose Planke, dort eine ausgebrochene Treppenstufe … Es war offensichtlich, dass sich spätestens seit Jacques’ Tod niemand mehr richtig um alles gekümmert hatte. Aber das würde sich nun ja ändern.
Isabelle wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als ein Schatten neben ihr erschien.
»Unsere Futtervorräte gehen leider zur Neige, wie so vieles andere auch.« Claude Bertrand öffnete die Tür zum Pferdestall und warf den Tieren ein paar mitgebrachte Möhren in den Futtertrog. »Deshalb habe ich die Schafherde letzte Woche auf die Wiesen getrieben, obwohl es dafür eigentlich noch viel zu früh im Jahr ist. Doch wenn ich sie alle zwei Tage auf neues Terrain umsetze, reicht das karge Angebot gerade so zum Überleben aus. Das Heu brauche ich jedenfalls für die Pferde. Dennoch befürchte ich, dass wir nachkaufen müssen, auch wenn Heu um diese Jahreszeit sehr teuer ist.« Er streichelte seinen Hund, der ihm wie am Vortag nicht von der Seite wich, über den Kopf.
»Eine Schafherde, Pferde, Pfauen – warum wurden die Tiere nicht schon längst verkauft?« Mitleidvoll schaute sie zu, wie sich die Pferde hungrig auf die Möhren stürzten.
Claude Bertrand zuckte mit den Schultern. »Dazu habe ich Monsieur Jacques seit Jahren geraten! In früheren Zeiten hielten die meisten Winzer der Gegend Schafe, um mit dem Wollhandel ein schlechtes Traubenjahr ausgleichen zu können. Heutzutage jedoch hat fast jeder vigneron die Schafhaltung aufgegeben, alle wollen sich auf ihr
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