Die Champagnerkönigin
Nacht über Vorwürfe machen.
Der große Schlafsaal war fahl erleuchtet durch den Schein zweier Gaslampen, die einen süßlichen Geruch verströmten. Zehn Betten standen an den langen Wänden links und rechts der Tür, aber nur drei waren besetzt. Eine ältere Frau mit einem grauen Zopf schlief im ersten Bett, im Bett daneben lag ein junges Mädchen, fast noch ein Kind. Ihr Gesicht war aufgeblasen wie ein Ballon, die Haut prall gespannt, als stünde sie kurz vor dem Bersten. Ihre Arme in einem ärmellosen Nachthemd sahen nicht besser aus. Isabelle fragte sich unwillkürlich, an welch schrecklicher Krankheit das Mädchen litt.
Das Weinen kam aus dem hintersten Bett am Fenster. Mit verhaltenen Schritten ging Isabelle auf das Bett zu. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Weinende trösten sollte. Nach dem Schrecken, den sie selbst erlebt und von dem sie sich noch nicht erholt hatte, stand ihr der Sinn nach allem anderen als nach Wohltätigkeiten. Aber sie hatte es einfach nicht übers Herz gebracht zu gehen. Als sie das Bett erreicht hatte, wünschte sie sich jedoch, genau das getan zu haben.
» Sie? «
Ghislaines schönes Gesicht war verquollen, ihre Augen gerötet von den Tränen. Ein Zopf hing ihr strähnig auf die Brust, die sonst so prachtvollen Haare der Wirtin waren stumpf und ohne Glanz. Als sie Isabelle erblickte, drehte sie sich nicht etwa fort, wie Isabelle kurz gehofft hatte. Denn dann hätte sie einfach wieder gehen können. Stattdessen brach Ghislaine erneut in Tränen aus.
»Mademoiselle Lambert, Ghislaine …«, sagte Isabelle zaghaft und kämpfte dabei gegen den dicker werdenden Kloß in ihrem Hals an. Nun fang nicht auch noch an zu weinen, befahl sie sich. Damit hilfst du der Frau am allerwenigsten. Aber wie konnte sie ihr helfen? Hätten Josefine, Clara oder auch Micheline hier gelegen, hätte Isabelle nicht lange gezögert, die Arme um sie geschlungen und sie hin- und hergewiegt, bis das Weinen aufhörte. Aber bei Ghislaine wäre ihr eine solche Umarmung wie eine unangemessene Vertraulichkeit vorgekommen. Also zog sie sich einen Stuhl heran, der zwischen Ghislaines Bett und dem nächsten stand. Das mindeste, was sie tun konnte, war, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Vielleicht würde die Kranke bald einschlafen. Dann konnte sie gehen.
Ghislaine Lambert. Daniels Schwester. Deswegen war er im Krankenhaus gewesen. Deshalb hatte er mitbekommen, dass Leon schwerverletzt eingeliefert worden war.
Je länger Isabelle dort saß, desto mehr spürte sie, wie müde und erschlagen sie war. Sie bewegte ihre schmerzenden Schultern und versteckte hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen. Ihre Gedanken wanderten zu Leon, der ein paar Türen weiter lag. Ob er schlief? Hoffentlich würden seine Kopfschmerzen bald nachlassen.
»Das Kind …« Zwei Worte, dahingehaucht.
Isabelle schrak zusammen. Einen Moment lang hatte sie Ghislaine völlig ausgeblendet. In einer instinktiven Geste legte sie dann beide Hände auf ihren Bauch. »Welches Kind?«
»Ich habe es verloren. Heute früh. Der Arzt sagte, bei solch schwerer Arbeit wie der meinen könne das passieren …« Ghislaines Blick war wund, ihre Arme lagen wie die schlaffen Glieder einer Marionette auf der rauhen weißen Bettdecke.
Isabelle nickte stumm und kam sich im selben Moment unsäglich dumm dabei vor. Warum nickte sie? Weil es keine tröstenden Worte zu sagen gab?
Doch Daniels Schwester schien sich nicht daran zu stören. »Ich hätte endlich etwas von ihm gehabt, was mir ganz allein gehört«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Isabelle leise. Das Kind war also von Alphonse Trubert gewesen. Und die Wirtin hatte es verloren.
Ghislaine schaute sie so seltsam an, als erkenne sie erst jetzt, wer an ihrem Bett saß.
Isabelle rutschte unruhig auf dem Stuhl nach vorn. »Kann ich noch etwas für Sie tun? Sonst gehe ich besser …«
Ghislaine schloss die Augen, so, wie es auch Leon zuvor getan hatte. Erleichtert erhob sich Isabelle von ihrem Stuhl. Sie wandte sich gerade zum Gehen, als es leise vom Bett ertönte: »Passen Sie auf sich auf, Isabelle. Auf sich und das Kind, damit es Ihnen nicht ergeht wie mir.«
18. Kapitel
Isabelle folgte dem Rat des Arztes und nahm sich in der nahe gelegenen Pension ein Zimmer. Am nächsten Morgen erschienen Micheline und ein völlig verkatert aussehender Claude in dem kleinen Frühstückszimmer der Pension.
»Woher wissen Sie, dass ich hier bin?«, rief Isabelle. Es hätte
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