Die Chancellor
welche die der
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›Chancellor‹ erteilte andere Richtung hervorgerufen
hat.Am nächsten Tag, am 21. Oktober, hat sich an unserer
Lage nichts geändert. In den Augen der Passagiere geht
die Fahrt unter den gewöhnlichen Umständen vonstat-
ten, und die Lebensweise an Bord erleidet keinerlei Ab-
weichung.
Übrigens verraten sich die Fortschritte des Feuers äu-
ßerlich noch auf keine Weise, und das ist ein gutes Zei-
chen. Alle Öffnungen sind so hermetisch verschlossen,
daß kein Rauch den Brand im Innern bemerken läßt.
Vielleicht wird es doch noch möglich, das Feuer auf
den Kielraum zu beschränken, und vielleicht verlöscht
es gar noch ganz oder glimmt nur langsam fort, ohne
die ganze Ladung zu ergreifen. Hierauf gründet Robert
Kurtis seine Hoffnung und hat aus übermäßiger Vor-
sicht sogar die Öffnungen der Pumpen verstopfen las-
sen, deren im Kielraum mündendes Rohr einige Luft-
teilchen eintreten lassen könnte.
Möge uns der Himmel zu Hilfe kommen, denn wir
sind nicht imstande, selbst noch mehr für uns zu tun!
Dieser Tag wäre ohne weitere Ereignisse vergangen,
wenn der Zufall mich nicht zum Hörer weniger Worte
eines Gesprächs gemacht hätte, aus denen hervorgeht,
daß unsere ohnehin sehr ernste Lage jetzt wahrhaft
schrecklich wurde.
Man urteile selbst.
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Ich saß auf dem Oberdeck; zwei der Passagiere plau-
derten mit leiser Stimme, ohne zu ahnen, daß es mir
dort verständlich sein könnte. Diese beiden Passagiere
waren der Ingenieur Falsten und der Kaufmann Ruby,
die sich beide öfter miteinander unterhalten.
Meine Aufmerksamkeit wird erst durch einige aus-
drucksvolle Gesten des Ingenieurs erregt, der seinem
Gegenüber lebhafte Vorwürfe zu machen scheint. Ich
kann nicht umhin, zu lauschen, und höre dann dabei
folgendes:
»Aber das ist Wahnsinn!« wiederholt Falsten, »wie
können Sie so unklug sein!«
»Pah«, antwortete Ruby ganz sorglos, »es wird ja
nichts geschehen!«
»Im Gegenteil, es kann das schlimmste Unheil ge-
schehen!« versetzte der Ingenieur.
»Gut, gut«, erwiderte der Kaufmann, »es ist nicht das
erste Mal, daß ich mit dem Zeug umgehe.«
»Ein Stoß genügt aber schon, eine Explosion hervor-
zurufen.«
»Das Gefäß ist sorgfältig verpackt, Mr. Falsten, und
ich wiederhole Ihnen, daß nichts zu fürchten ist.«
»Weshalb haben Sie den Kapitän nicht darüber infor-
miert?«
»Ei, weil er mein Kolli dann nicht mitgenommen
hätte.«
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Der Wind hat sich seit einigen Augenblicken gelegt
und trägt mir die Worte nicht mehr zu; offenbar leistet
aber der Ingenieur noch immer Widerstand, während
Ruby sich begnügt, mit den Achseln zu zucken.
Jetzt, jetzt dringen aufs neue einzelne Worte an mein
Ohr.
»Doch, doch«, sagte Falsten, »der Kapitän muß davon
erfahren. Das Kolli muß ins Meer geworfen werden; ich
verspüre keine Lust, mich in die Luft sprengen zu las-
sen!«
In die Luft sprengen! Ich erhebe mich rasch bei die-
sen Worten. Was will der Ingenieur damit sagen? Wor-
auf spielt er an? Er kennt ja die Situation der ›Chancel-
lor‹ nicht und weiß nicht, daß eine Feuersbrunst ihre
Fracht verzehrt!
Aber ein Wort – ein »furchtbares« unter den tatsäch-
lichen Umständen, jagt mich auf. Und dieses Wort »Na-
tron-Pikrat« kommt mehrmals vor.
Im Augenblick bin ich neben den beiden Männern
und unwillkürlich fasse ich mit unwiderstehlicher Ge-
walt Ruby beim Kragen.
»Es ist Pikrat an Bord?
»Ja«, antwortet Falsten, »ein Kolli mit etwa 30
Pfund.«
»Und wo?«
»Im Laderaum, bei der Schiffsfracht!«
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Fortsetzung 21. Oktober. – Ich kann nicht schildern, was
bei den Worten des Ingenieurs in mir vorging. Das ist
kein Erschrecktsein mehr, es ist eine Art Resignation.
Mir scheint sich die Situation dadurch zu klären, der
Knoten vielleicht eher zu lösen. Kühl bis ans Herz suche
ich Robert Kurtis auf, der sich auf dem Vorderkastell
befindet.
Auf die Nachricht hin, daß ein Kolli mit 30 Pfund Pi-
krat – d.h. eine hinreichende Menge, um einen Berg in
die Luft zu sprengen – an Bord ist und zwar im Fracht-
raum, nahe dem Herd des Feuers selbst, und daß die
›Chancellor‹ jeden Augenblick in die Luft gehen kann,
entsetzt sich Robert Kurtis keineswegs, kaum runzelt
sich seine Stirn, kaum erweitert sich sein Auge.
»Gut«, antwortet er mir, »nicht ein Wort hiervon. Wo
ist dieser Ruby?«
»Auf dem Verdeck.«
»Kommen Sie mit mir, Mr.
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