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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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auch ohne Stoß entzünden?«
    »Gewiß«, entgegnete der Ingenieur. »Unter gewöhnli-
    chen Umständen ist das Pikrat nicht mehr entzündlich,
    als das Pulver, aber ebenso wie dieses. Ergo . . .«
    Falsten hatte das Wort »ergo« gebraucht. Sollte man
    nicht glauben, er doziere in einem Chemiekurs?
    Wir sind nach dem Verdeck zurückgegangen. Robert
    Kurtis ergreift meine Hand.
    »Mr. Kazallon«, sagt er, ohne einen Versuch, seine Er-
    regung zu verbergen, »diese ›Chancellor‹, dieses schöne
    Schiff, das ich so sehr liebe, durch Feuer zerstören zu
    sehen, ohne etwas dagegen tun zu können . . .«
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    »Mr. Kurtis, Ihre Erregung . . .«
    »Ich könnte sie nicht bezwingen! Sie allein sind Zeuge
    dessen, wieviel ich leide. – Doch es ist vorüber«, fügte er
    hinzu, aber ich sah den Kampf, den er bestand.
    »Ist die Situation ganz verzweifelt?« fragte ich dar-
    auf.»Nun, unsere Lage ist folgende«, antwortete Robert
    Kurtis wieder ruhig. »Wir befinden uns über einer Mine,
    deren Lunte schon entzündet ist. Jetzt ist nur die Frage,
    wie lang diese Lunte wohl ist.«
    Dann zieht er sich zurück.
    Jedenfalls ist es der Mannschaft und den übrigen Pas-
    sagieren noch unbekannt, wie ungeheuer ernst unsere
    Lage ist.
    Seit er von der Feuersbrunst gehört hat, beschäftigt
    sich Mr. Kear damit, seine wertvollsten Objekte zu-
    sammenzuraffen und denkt an seine Frau natürlich
    gar nicht. Nachdem er gegen den zweiten Offizier halb
    befehlend den Wunsch geäußert hat, das Feuer zu lö-
    schen, und ihn für alle seine Folgen verantwortlich ge-
    macht, zieht er sich in seine Kabine im Heck zurück und
    kommt nicht wieder zum Vorschein. Mrs. Kear seufzt
    und stöhnt und findet trotz ihrer sonstigen Lächerlich-
    keiten doch allgemeines Mitleid. Miss Herby glaubt sich
    unter diesen Umständen von den Pflichten gegen ihre
    Herrin nur um so weniger entbunden, und widmet je-
    ner die erdenklichste Sorgfalt. Ich muß das Benehmen
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    dieses jungen Mädchens bewundern, der ihre Pflicht
    über alles geht.
    Am nächsten Tag, dem 23. Oktober, läßt der Kapitän
    den zweiten Offizier in seine Kabine rufen. Zwischen
    ihnen entspinnt sich folgendes Gespräch, dessen Inhalt
    mir Robert Kurtis mitgeteilt hat.
    »Mr. Kurtis«, sagt der Kapitän mit irrem Blick und
    offenbaren Anzeichen geistiger Störung, »ich bin doch
    wohl Seemann, nicht wahr?«
    »Gewiß, Herr Kapitän.«
    »Nun gut, stellen Sie sich vor, daß ich von meinem
    Geschäft nichts verstehe . . . Ich weiß nicht, was mit mir
    vorgeht . . . ich vergesse . . . ich bin mir unklar. Sind wir
    seit unserer Abreise von Charleston nicht nach Nordos-
    ten gesegelt?«
    »Nein«, antwortet der zweite Offizier, »wir fuhren auf
    Ihren Befehl nach Südosten.«
    »Wir haben aber doch nach Liverpool geladen?«
    »Gewiß.«
    »Und die . . .? Wie heißt doch das Schiff, Mr. Kur-
    tis?«
    »Die ›Chancellor‹.«
    »Ah, richtig, die ›Chancellor‹! Wo befindet sie sich
    jetzt?«
    »Im Süden des Wendekreises.«
    »Gut, gut; ich verpflichte mich auch nicht, sie nach
    Norden zurückzuführen! Nein! Nein! Das könnte ich
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    nicht . . . ich wünsche meine Kabine nicht wieder zu ver-
    lassen . . . ich kann den Anblick des Meeres nicht ertra-
    gen . . .!«
    »Herr Kapitän«, antwortet Robert Kurtis, »ich hoffe,
    daß unsere Sorgfalt . . .«
    »Ja, ja, ist schon gut . . ., wir werden später sehen –
    aber ich habe einen Befehl für Sie, den letzten, den Sie
    von mir empfangen werden.«
    »Ich höre«, entgegnete der zweite Offizier.
    »Mein Herr«, ergreift der Kapitän das Wort, »von
    jetzt ab existiere ich nicht mehr an Bord und Sie über-
    nehmen das Kommando des Schiffes . . . Die Verhält-
    nisse sind stärker als ich . . ., ich vermag nicht zu wider-
    stehen . . . Mein Kopf schwindelt . . .! Oh, ich leide sehr,
    Mr. Kurtis«, fügt Silas Huntly hinzu und drückt seine
    beiden Hände gegen die Stirn.
    Aufmerksam betrachtet der zweite Offizier den, der
    bisher an Bord befehligte, und begnügt sich zu antwor-
    ten:»Es ist gut, Herr Kapitän.«
    Nach dem Verdeck zurückgekehrt, erzählt er mir das
    Vorgefallene.
    »Jawohl«, sage ich, »wenn der Mann auch noch nicht
    ganz von Sinnen ist, so leidet er doch am Gehirn und
    es ist besser, daß er sich seines Mandats freiwillig bege-
    ben hat.«
    »Ich trete unter sehr ernsten Umständen an seine
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    Stelle«, erwidert mir Robert Kurtis. »Doch wie dem
    auch sei, ich werde meine Pflicht zu tun

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