Die Chancellor
schon in 10 bis 12
Tagen eine Zuflucht finden!«
Wirklich war ja nichts anderes zu tun; so wurde denn
Robert Kurtis’ Vorschlag einstimmig gebilligt.
Daoulas und seine Gehilfen bemühen sich nun, das
Leck auch von innen her zu verschließen, und verstär-
ken die angekohlten Rippenpaare aufs beste. Trotz alle-
dem leuchtet es ein, daß die ›Chancellor‹ für eine län-
gere Fahrt die nötige Sicherheit nicht bietet und daß sie
im ersten besten Hafen, den sie anläuft, für seeuntüchtig
erklärt werden wird.
Der Zimmermann kalfatert auch die äußeren Fugen
der Verplankung, soweit diese während der Ebbe bloß-
gelegt wird; denjenigen Teil aber, der auch zu dieser Zeit
unter Wasser bleibt, kann er nicht untersuchen und muß
sich begnügen, ihn inwendig möglichst auszubessern.
Diese verschiedenen Arbeiten dauern bis zum 20. No-
vember; nun, nachdem man alles mögliche getan hat,
das Schiff wieder in Stand zu setzen, beschließt Robert
Kurtis, es wieder in tieferes Wasser zu bringen.
Es versteht sich von selbst, daß die ›Chancellor‹, seit
der Entfernung der Frachtgüter und des Wassers aus
dem Frachtraum selbst, vor Eintritt der vollen Flut sich
schwimmend erhielt. Da man die Vorsicht gebraucht
hatte, sie an beiden Enden zu verankern, wurde sie
nicht weiter auf die Klippe gehoben, sondern blieb in
dem kleinen natürlichen Bassin, das zur Rechten und
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zur Linken von Felsen begrenzt ist, die sich auch wäh-
rend des höchsten Stands der Flut nicht mit Wasser be-
decken. Das Bassin erweist sich auch geräumig genug,
um das Schiff zu wenden, was mit Hilfe starker Taue
leicht ausgeführt wird, so daß sein Vorderteil jetzt nach
Süden gekehrt ist.
Es erscheint demnach gar nicht so schwierig, die
›Chancellor‹ ganz frei zu machen, entweder durch Auf-
hissen der Segel, wenn der Wind dazu günstig wäre,
oder durch Schleppen durch die Einfahrtsöffnung bei
konträrer Luftströmung. Der Ausführung dieses Vorha-
bens stellen sich freilich Hindernisse anderer Art entge-
gen, die dabei zu überwinden sind.
Der Eingang der Durchfahrt ist nämlich durch eine
quer vorliegende Basaltbarriere verschlossen, die auch
beim höchsten Stand der Flut kaum so hoch mit Wasser
überdeckt ist, wie es der Tiefgang der ›Chancellor‹, trotz
der möglichsten Entlastung, erfordert. Wenn sie vor ih-
rer Strandung dennoch über diesen Felsengrat hinweg-
gekommmen ist, so erklärt sich das, ich wiederhole es,
dadurch, daß sie von einer gewaltigen Welle emporge-
hoben und in das Bassin hineingeworfen wurde. Dazu
kommt noch, daß an jenem Tag nicht die gewöhnliche
bei Neumond eintretende, sondern die stärkste Hoch-
flut des Jahres war, und es dauert einige Monate, bis sich
eine so hohe äquinoktiale Springflut wiederholt.
Nun leuchtet es aber ein, daß Robert Kurtis nicht
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mehrere Monate lang warten kann. Heute ist Syzygien-
Springflut; er muß diese benutzen, um sein Schiff zu be-
freien; gelangt es erst bis über das Bassin hinaus, soll es
aufs neue so weit belastet werden, um Segel tragen und
Fahrt machen zu können.
Glücklicherweise weht ein erwünschter Nordostwind
in der Richtung der Durchfahrt. Der Kapitän ist aber
mit Recht zu vorsichtig, mit vollen Segeln gegen ein
Hindernis anzufahren, das ihn doch vielleicht aufhalten
könnte, noch dazu mit einem Fahrzeug, dessen Haltbar-
keit jetzt so fraglich geworden ist. Nach einer Beratung
mit Leutnant Walter und dem Hochbootsmann ent-
scheidet er sich, die ›Chancellor‹ zu schleppen. Infol-
gedessen wird unter ihr Heck ein Anker eingelegt, um
für den Fall des Mißlingens der Operation das Schiff
nach dem Ankerplatz zurückwinden zu können. Zwei
weitere Anker werden außerhalb der kaum 200 Fuß lan-
gen Durchfahrt auf den Grund gelassen. Deren Ketten
legt man an die Spille, die Mannschaften begeben sich
an deren Drehbalken und um 4 Uhr nachmittags setzt
sich die ›Chancellor‹ in Bewegung.
Um 4 Uhr 43 muß die Flut am höchsten sein. Schon
10 Minuten vorher ist das Schiff so weit angeholt, wie
es sein Tiefgang gestattet; bald aber streifte der vordere
Teil des Kiels die Felskante und mußte es anhalten.
Jetzt, wo der Vorderstern schon über das Hindernis
hinweg ist, hat Robert Kurtis keine Ursache mehr, die
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Kraft des Windes nicht der mechanischen Wirkung der
Spille beizugesellen; man entfaltet also möglichst viele
Segel und stellt sie rechtwinklig gegen den
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