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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Nacht verdoppelt, übergießen uns mit einem
    fahlen Schein, ähnlich der Farbe, die die Gegenstände
    annehmen, wenn die Flamme von Alkohol, in dem
    Kochsalz gelöst war, sie beleuchtet.
    — 193 —
    »Fürchten Sie sich vor dem Gewitter, Miss Herbey?«
    fragt André Letourneur das junge Mädchen.
    »Nein, mein Herr«, antwortet Miss Herbey, »das Ge-
    fühl in meinem Inneren möchte ich lieber das der Ehr-
    furcht nennen. Ist jenes nicht eine der prachtvollsten
    Erscheinungen, die wir nur je bewundern können?«
    »Nichts wahrer als das, Miss Herbey«, antwortet ihr
    André, »und besonders, wenn der Donner grollt. Kann
    das Ohr ein majestätischeres Geräusch hören, und was
    ist dagegen die trockene, kurze Stimme unserer Ge-
    schütze? Der Donner ergreift die ganze Seele; er ist we-
    niger ein Geräusch, als ein Ton, der an- und abschwillt,
    wie die getragene Note eines Sängers, und wenn ich of-
    fen sein soll, Miss, so hat mich niemals eines Künstlers
    Stimme so ergriffen, wie diese große, unvergleichliche
    Stimme der Natur.«
    »Ja, ein tiefer Baß!« sage ich lächelnd.
    »Wirklich«, antwortet André, »möchten wir ihn zu
    hören bekommen, denn diese stummen Blitze sind ef-
    fektloser.«
    »Meinen Sie das, mein lieber André?« hab’ ich ihm
    erwidert. »Ertragen Sie das Unwetter mutig, wenn es da
    ist, doch wünschen Sie es nicht herbei.«
    »Nun, das Gewitter bedeutet für uns Wind!«
    »Und Wasser«, fügt Miss Herbey hinzu, »Wasser, an
    dem es uns gebricht!«
    Den jungen Leuten wäre wohl noch manches zu er-
    — 194 —
    widern gewesen, ich mag aber meine nüchterne Prosa
    nicht in die Poesie ihrer Stimmung hineinmischen. Sie
    betrachten das Gewitter von einem ganz eigenen Ge-
    sichtspunkt, und eine volle Stunde höre ich sie davon
    schwärmen und es herbeiwünschen. Inzwischen hat
    sich das Firmament allmählich hinter schweren Wolken
    versteckt, und die Sterne im Zenit erlöschen einer nach
    dem andern, kurze Zeit nachdem die Sternbilder des
    Tierkreises verschwunden sind. Die dichten schwarzen
    Dunstmassen ballen sich über unserem Haupt und ver-
    schleiern auch die letzten Lichter des Himmels. Jeden
    Augenblick erglänzt die Masse droben in fahlem Licht-
    schein, von dem sich kleine graue Wolken abheben.
    Bis jetzt hat sich die ganze in den Lüften angesam-
    melte Elektrizität geräuschlos entladen. Da die Luft aber
    sehr trocken und infolgedessen ein sehr schlechter Lei-
    ter ist, kann sie zuletzt doch nur in furchtbaren Schlä-
    gen zur Ausgleichung kommen, und es scheint mir un-
    möglich, daß das Gewitter nicht in kürzester Zeit mit
    voller Wut ausbrechen sollte.
    Robert Kurtis und der Hochbootsmann sind dersel-
    ben Ansicht. Letzteren leitet nur sein unfehlbarer see-
    männischer Instinkt; der Kapitän dagegen verbindet
    mit diesem Instinkt des »weather-wise«* auch noch die
    Kenntnisse des gebildeten Meteorologen. Es scheint mir,
    * Wetterpropheten
    — 195 —
    als bilde sich über uns eine dicke Wolkenschicht, die die
    Wetterkundigen »cloud-ring«* nennen, und die sich fast
    allein in der heißen Zone bildet, die mit all dem Wasser-
    dampf überladen ist, den die Passatwinde ihr von allen
    Teilen des Ozeans aus zuführen.
    »Ja, Herr Kazallon«, sagt Robert Kurtis zu mir, »wir
    befinden uns in der Region der Gewitterstürme, denn
    der Wind hat unser Floß bis in die Zone verschlagen, in
    der ein sehr feinhöriger Beobachter eigentlich unausge-
    setzt ein Rollen des Donners hören müßte.«
    »Mir scheint«, antworte ich aufmerksam lauschend,
    »als hörte ich jenes fortwährende Rollen, von dem Sie
    sprechen.«
    »Ich auch«, sagt Robert Kurtis, »jetzt ist das aber das
    erste Grollen des Gewitters, das binnen 2 Stunden in
    größter Heftigkeit wüten wird. Nun, wir sind bereit, es
    zu empfangen.«
    Keiner von uns denkt nur entfernt daran, zu schla-
    fen; niemand würde dazu auch imstande sein, denn die
    schwüle Luft ist zum Ersticken. Die Blitze werden deut-
    licher, durchzucken den Horizont in einer Ausdehnung
    von 100 bis 150 Grad und setzen den ganzen Umkreis
    des Himmels in Flammen, während eine Art phospho-
    reszierende Helligkeit sich in der Atmosphäre entwi-
    ckelt.
    * Ringwolken.
    — 196 —
    Endlich wird das Rollen des Donners deutlicher und
    stärker; doch besteht es, wenn man so sagen darf, noch
    aus einem abgerundeten Ton, ohne scharfe Akzente, aus
    einem Grollen, das noch kein Echo weckt. Das Him-
    melsgewölbe erscheint wie gepolstert mit diesen Wol-
    ken,

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