Die Chancellor
sich wieder mit einer Gewalt ohnegleichen.
Der Mast des Floßes, dessen Strickleitern gerissen sind,
wird quer gebogen, und man beeilt sich, ihn aus der
Öffnung zu heben, um sein Abbrechen zu verhüten. Un-
ser Steuerruder wird durch einen Wellenschlag zerstört,
und der Bootsriemen treibt fort, ohne daß es möglich
wurde, ihn wiederzuerlangen. Gleichzeitig werden auch
die Schutzwände des Backbords eingedrückt, und wü-
tend drängen sich die Wellen durch diese Bresche.
Der Zimmermann und die Matrosen wollen versu-
chen, dem Schaden beizukommen; bei den fortwäh-
renden Stößen ist das aber unmöglich, und sie rollen
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fallend einer über den andern, als das Floß, durch eine
ungeheure Woge emporgehoben, sich um einen Winkel
von mehr als 45 Grad neigt. Sind die Männer nicht mit
weggerissen worden? Müssen die Stricke, die uns halten,
nicht zerreißen? Welches Wunder hat uns alle bewahrt,
daß wir nicht ins Meer geschleudert wurden . . .? Ich
weiß es nicht zu erklären. Mir scheint es fast unglaub-
lich, daß das Floß bei den chaotischen wilden Bewegun-
gen nicht vollkommen umgestürzt wurde und wir, an
seine Planken festgebunden, einem schrecklichen Tod
entgingen!
In der Tat kommt das Floß gegen 3 Uhr morgens, als
das Unwetter zügelloser als je zuvor tobte, von dem Rü-
cken einer berghohen Woge emporgehoben, fast auf die
schmale Seite zu stehen. Ein Aufschrei des Schreckens
erschallt . . .! Wir kentern . . .! Nein . . .! Das Floß hat sich
auf dem Wogenkamm in unbestimmbarer Höhe gehal-
ten, und wir vermochten bei dem intensiven Licht der
Blitze, die sich nach allen Richtungen hin kreuzen, vor
Entsetzen erstarrt, das Meer zu überblicken, das ringsum
aufschäumt, als brandete es über Klippen hinweg.
Das Floß nimmt sofort seine horizontale Lage wieder
ein, aber in dem Augenblick, wo es schief stand, sind
die Taue der Wassertonnen gerissen. Eine habe ich über
Bord gehen sehen, während der Inhalt der anderen zum
Teil ausfloß.
Einige Matrosen springen hinzu, um das Faß, welches
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das konservierte Fleisch enthält, zu halten. Da klemmt
sich der Fuß des einen zwischen die etwas auseinander-
gewichenen Planken der Plattform und der Unglück-
liche stößt ein herzzerreißendes Geschrei aus.
Ich will ihm zu Hilfe eilen, und es gelingt mir auch,
die Stricke um meinen Leib zu lösen . . . Zu spät! Bei
einem blendenden Blitz erkenne ich noch, wie der Un-
glückliche, dessen Fuß wieder frei geworden ist, durch
einen Wogenschwall, der sich donnernd über uns
stürzt, hinweggerissen wird. Sein Kamerad ist mit ihm
verschwunden, ohne daß es möglich wurde, beiden zu
Hilfe zu kommen.
Mich hat die Sturzsee auf die Plattform niedergewor-
fen, und ich habe durch Anschlagen des Kopfs auf einen
vorspringenden Balken eine Zeitlang das Bewußtsein
verloren.
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22. Dezember. – Endlich ist der Tag angebrochen, und
die Sonne kommt zwischen den letzten übriggeblie-
benen Gewitterwolken wieder zum Vorschein. Dieser
Kampf der Elemente hat nur wenige Stunden gedauert,
doch er war entsetzlich, und Luft und Wasser wüteten
mit einer unvergleichlichen Erbitterung.
Ich habe hier nur die Hauptvorgänge beschrieben,
denn ich war infolge der Bewußtlosigkeit nach meinem
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Sturz nicht imstande, das Ende der Empörung der Na-
tur zu beobachten. Ich weiß lediglich, daß der Orkan,
kurze Zeit nach jener Sturzsee, sich durch Gegenwinde
ermäßigt und die elektrische Spannung der Atmosphäre
nachgelassen hat. Der Sturm hielt also über die Nacht
hinaus nicht an. Doch welchen Schaden hat er auch in
dieser kurzen Zeit verursacht, welche unersetzlichen
Verluste und welches Elend drohen nun über uns her-
einzubrechen! Von dem Wasser, das er in Strömen he-
rabgoß, haben wir nicht einen Tropfen auffangen kön-
nen!
Infolge der Bemühungen der Herren Letourneur und
von Miss Herbey bin ich bald wieder zu mir gekom-
men, aber Robert Kurtis’ heldenmütiger Hilfe verdanke
ich es, daß ich durch eine zweite Sturzsee nicht mit fort-
gespült wurde.
Der eine von den beiden durch das Unwetter umge-
kommenen Matrosen ist Austin, ein junger, gutmüti-
ger, tätiger und beherzter Mann von 28 Jahren. Der an-
dere ist der alte Ire O’Ready, der Überlebende so vieler
Schiffbrüche!
Jetzt sind wir nur noch 16 Personen auf dem Floß,
d.h. fast die Hälfte derer, die sich an Bord der ›Chancel-
lor‹ eingeschifft
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