Die Chaosschwestern sind unschlagbar - Mueller, D: Chaosschwestern sind unschlagbar
erscheint nämlich gerade über dem Treppengeländer oben. Sie lächelt uns zu.
»Papa kann nicht runterkommen«, verkündet sie laut. »Er muss das Dach festhalten. Sonst kracht es ein.«
»Cornelius!«, höre ich Cornelius oben wütend schnaufen. »Ich heiße Cornelius!«
Unten quietscht Iris bei Kennys Worten gequält auf, als hätte eine Maus sie gebissen. Dann höre ich, wie sie hektisch die Tasten unseres Telefons betätigt.
Ich nehme drei Stufen auf einmal, als ich die Treppe hochrase und in Iris’ und Cornelius’ Zimmer stürze.
»RAUS!«, brüllt Cornelius zur Begrüßung. »Raus hier! Alle raus! SOFORT!«
Ich taumele schon von ganz allein rückwärts. Denn so was hab sogar ich noch nicht gesehen. Obwohl ich schon eine ganze Weile (elf Jahre immerhin) mit Cornelius zusammenlebe. Und – ganz ehrlich – da erlebt man so allerhand!
Cornelius steht in Schlafanzughose auf dem Bett, beide Hände unter größter Anstrengung gegen einen Riesenbalken in der Decke gestemmt – die allerdings kein bisschen mehr wie eine Decke aussieht. Überall im Zimmer verstreut liegen Holzbalken und Teile von so einer Art Pappplatte, an der Tapetenreste kleben. Das müssen die Teile sein, die vorher Decke waren. Stattdessen kann man über unseren Köpfen jetzt an vielen Stellen direkt auf den modrigen Dachboden gucken.
RRRUUUUUMMMMMSSSS!
Peng! Das war noch mal ein Brett von oben. Direkt vor Kennys und meinen Füßen knallt es auf. Und durch ein weiteres Loch kann man nun sogar hoch bis zu den Dachziegeln sehen.
»RAUS!«, brüllt Cornelius mit einer Verzweiflung in der Stimme, die ich noch nie bei ihm gehört habe. Wenn er
sonst brüllt, was er – zugegeben – gerne und oft tut, dann immer wütend. Aber nie verzweifelt.
»DIE FEUERWEHR! Sagt Iris, sie soll unbedingt die Feuerwehr rufen!!!«
Augenblicklich wird mir der Ernst der Lage bewusst. Ich schubse Kenny mit einem Ruck aus dem Raum, drehe mich um und rufe die Treppe runter: »FEUERWEHR! IIIIRIS!! CORNELIUS KANN NICHT MEHR HALTEN!!!«
Mir wird heiß und kalt, als ich mich jetzt zu Cornelius umdrehe und einen Schritt zurück ins Zimmer mache. Seine Arme zittern schon und Schweiß läuft ihm den Pyjamarücken runter. Sich vorzustellen, was passiert, wenn seine Kraft plötzlich nachlässt. Wenn er den Balken loslässt …
Eine heiße Welle der Angst schießt mir in den Bauch! Angst um meinen Vater! Cornelius! Mir war gar nicht klar, wie lieb ich ihn hab!
Ich kann mich nur im letzten Moment davon zurückhalten, zu ihm zu laufen und mich an ihn zu schmeißen. Was natürlich grauenvoll wäre. Weil er dann ohne Zweifel umfallen würde. Und das Dach auf uns alle drauf. Hilfe!
Wo bleibt denn bloß die Feuerwehr!
Mir zittern jetzt nicht nur die Knie. Mir klappern jetzt auch die Zähne.
»Cornelius«, versuche ich möglichst ruhig und beherrscht zu sagen. Schließlich will ich ihn nicht erschrecken. »Cornelius, kannst du das Dach nicht einfach einstürzen lassen und vorher schnell herkommen?«
»Ja«, stimmt mir Kenny zu, die ebenfalls etwas beunruhigt aussieht, »komm doch lieber zu uns rüber, Papa!«
»WAAAAAAHHHHH!«, schreit er als Antwort bloß. Und vergisst völlig, Kennys Papa zu korrigieren. Ein schlechtes Zeichen.
Und eine winzige Sekunde, die genügt, um meinen Körper vollends mit Panik zu überschütten und mit hilflosem Zittern durchzurütteln, ja, eine winzige Sekunde lang fürchte ich, dass es das nach diesem Schrei war. Mit Cornelius, meine ich.
Aber er scheint zum Glück nur seiner Verzweiflung Luft gemacht zu haben. Keine weiteren Planken stürzen herab.
Ich denke fieberhaft nach. »Kenny, lauf nach nebenan und hol Walter Walbohm!« Ich überlege weiter. »Und auch Gregory von der anderen Seite. Wir brauchen jeden Mann!«
»NEIN!«, brüllt Cornelius. »Die sollen nicht reinkommen! Viel zu gefährlich!«
Doch seine Arme zittern allmählich heftiger als unsere alte Waschmaschine beim Schleudergang. Keine Frage, lange macht er’s nicht mehr!
Und dann hört man ein gruseliges Geräusch. Der Balken über Cornelius knackt bedenklich. Direkt danach sehe ich, dass sich ein Spalt bildet.
Der Balken spaltet sich! Oh nein, wie soll Cornelius denn beide Teile zugleich halten?
Cornelius guckt nach oben und sieht es auch. Er starrt und starrt mindestens eine Minute lang den Spalt an, der wie in Zeitlupe groß und größer wird. Seiner Brust entfährt ein tiefer Seufzer. Sein Luftholen danach ist hektisch wie bei einem schluchzenden Kind.
Weitere Kostenlose Bücher