Die Chirurgin
Rizzoli.
»Nein, eher so was tief Religiöses. Was ist das Wesen von Gott, so was in der Richtung.«
»Dann muss ich es nicht lesen«, sagte Rizzoli. »Ich kenne die Antworten auf alle Fragen. Ich bin nämlich katholisch.«
Moore warf einen Blick in eine Seitenstraße und sagte: »Wir sind gleich da.«
Die Adresse, die sie suchten, war in Jamaica Plain, einem Viertel im Westen von Boston, das sich zwischen dem Franklin Park und der angrenzenden Stadt Brookline erstreckte. Der Name der Frau war Nina Peyton. Vor einer Woche hatte sie in der Zweigstelle der Stadtbibliothek in Jamaica Plain ein Exemplar von Der Sperling ausgeliehen. Von allen Bibliotheksbenutzern im Großraum Boston, die das Buch ausgeliehen hatten, war Nina Peyton die Einzige, die nachts um zwei nicht ans Telefon gegangen war.
»Hier ist es«, sagte Moore, als der Streifenwagen vor ihnen nach rechts in die Eliot Street abbog. Er tat das Gleiche und hielt einen Block weiter hinter dem Streifenwagen an.
Das Signallicht auf dem Dach des Wagens erhellte die Nacht mit unwirklichen blauen Blitzen, als Moore, Rizzoli und Frost durch das Gartentor gingen und sich dem Haus näherten. Drinnen glomm ein einzelnes schwaches Licht.
Moore warf Frost einen kurzen Blick zu, worauf dieser nickte und um das Haus herum zur Rückseite ging.
Rizzoli klopfte an die Haustür und rief: »Polizei!«
Sie warteten ein paar Sekunden.
Wieder klopfte Rizzoli, diesmal lauter: »Ms. Peyton, hier spricht die Polizei. Machen Sie auf!«
Drei Herzschläge lang war es still. Dann knackte es plötzlich in ihren Funkgeräten, und sie hörten Frosts Stimme.
»Am Rückfenster ist ein Fliegengitter herausgebrochen!«
Moore und Rizzoli tauschten einen Blick aus und trafen wortlos die Entscheidung.
Mit dem Griff seiner Taschenlampe schlug Moore die Fensterscheibe neben der Haustür ein, steckte die Hand durch und zog den Riegel zurück.
Rizzoli war als Erste im Haus und rückte in geduckter Haltung vor, die Waffe in weitem Bogen vor dem Körper hin und her schwenkend. Moore war direkt hinter ihr. Das Adrenalin schoss durch seinen Körper, während er eine rasche Folge von Bildeindrücken wahrnahm. Den Holzfußboden. Einen offenen Wandschrank. Die Küche geradeaus, das Wohnzimmer zur Rechten. Eine einzelne Lampe brannte auf einem Beistelltisch.
»Das Schlafzimmer«, sagte Rizzoli.
» Los! «
Sie gingen weiter den Flur entlang, Rizzoli voraus. Ihr Kopf ruckte nach links und rechts, während sie ein Badezimmer und ein Gästeschlafzimmer passierten; beide Räume waren leer.
Die Tür am Ende des Flurs stand einen Spalt breit offen; sie konnten nicht sehen, was in dem dunklen Schlafzimmer dahinter war.
Seine schweißnassen Hände umklammerten die Waffe, sein Herz hämmerte, als Moore Zentimeter für Zentimeter an die Tür heranrückte. Und sie mit dem Fuß aufstieß.
Der scharfe, widerliche Geruch von Blut schlug ihm entgegen. Er fand den Lichtschalter und drückte darauf. Noch bevor das Bild auf seine Netzhäute traf, wusste er, was er sehen würde. Und doch war er nicht gänzlich auf den entsetzlichen Anblick vorbereitet.
Der Bauch der Frau war aufgeschlitzt. Der Dünndarm quoll in Schlingen aus der Wunde hervor und hing, grotesken Luftschlangen gleich, über die Bettkante. Blut tropfte aus der offenen Halswunde und sammelte sich in einer wachsenden Lache auf dem Boden.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Moore verarbeitet hatte, was er da sah. Erst als er die Einzelheiten vollständig registriert hatte, wurde ihm ihre Bedeutung klar. Das Blut war frisch, es floss noch. Die Spritzer von arteriellem Blut an der Wand fehlten. Und dann war da die immer größer werdende Pfütze von dunklem, fast schwarzem Blut.
Sofort stürzte er zu dem Körper hin, mitten durch die Blutlache.
»He!«, schrie Rizzoli. »Sie verwischen die Spuren!«
Er legte zwei Finger an die unverletzte Seite des Halses.
Die Leiche schlug die Augen auf.
Gütiger Himmel. Sie lebt noch.
8
Catherine fuhr im Bett zusammen und erstarrte. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, sämtliche Nerven waren wie elektrisiert vor Angst. Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und versuchte verzweifelt, gegen die Panikattacke anzukämpfen.
Jemand klopfte an die Tür des Bereitschaftszimmers. »Dr. Cordell?« Catherine erkannte die Stimme einer der Schwestern von der Unfallstation.
»Dr. Cordell?«
»Ja?«
»Wir kriegen einen Traumafall rein! Massiver Blutverlust, Verletzungen an Abdomen und Hals. Ich
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