Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
mich hin.«
»Nein.«
»Du musst. Wie lange hab ich geschlafen?«
»Äh – fast zwei Tage.«
»Zwei Tage?« schrie Torak. »Aber dann ist ja heute Nacht schon die Nacht der Seelen!«
Der Aufschrei brachte Wolf sofort an seine Seite.
Jetzt verstand er, warum Eostra ihn hatte entkommen lassen: weil er überhaupt nicht entkommen war! Es passte ihr sehr gut, ihn so eingelullt zu wissen, hilflos wie eine Fliege im Spinnennetz, bis… ja, bis sie ihn gebrauchen konnte.
»Hör mir gut zu, Dark«, sagte er und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Heute Nacht wird die Seelenesserin etwas Schreckliches tun. Ich weiß nicht genau, was, aber ich weiß, dass sie die Toten auf ihre Seite bringen und dazu benutzen will, über die Lebenden zu bestimmen. Du musst mich gehen lassen!«
»Aber im Schlaf hast du gesagt, sie will dich umbringen. Du musst bei mir bleiben. Hier bist du sicher.«
»Nach dieser Nacht ist es nirgendwo mehr sicher. Dann ist sie zu stark geworden! Wenn sie die Toten befehligen kann, wird sie bald über die Berge, den Wald und das Meer herrschen!«
»Was ist das Meer?«, fragte Dark.
Torak stieß ein ohnmächtiges Brüllen aus, das die Höhle erzittern ließ.
Wolf legte die Ohren zurück und jaulte.
Ark schlug mit ihren Flügeln.
Mit größter Anstrengung schluckte Torak seine Wut hinunter. »Vielleicht überzeugt dich das: Der Geist meines Vater ist mit ihr verbunden, wie genau, das verstehe ich selbst nicht. Wenn ich sie aufhalten kann, helfe ich vielleicht auch ihm. Verstehst du jetzt, dass du mich gehen lassen musst ?«
Ein Schatten huschte über Darks seltsames Gesicht und mit einem Mal sah er älter aus. »Mein Vater hat mich im Stich gelassen. Er ist nie wiedergekommen.«
Torak biss die Zähne zusammen. »Und wenn es nun Ark wäre, die Hilfe bräuchte? Du würdest doch alles tun, um sie zu retten, oder nicht?«
Dark knetete seine kreidebleichen Hände, dass die Knöchel knackten. Er war hin und her gerissen. »Ich bin so viele Winter hier gewesen«, sagte er. »Du bist der erste Mensch. Der erste echte Mensch.«
Ark spürte seine Qual und flatterte ihm auf die Schulter. Wolf schaute ängstlich von Torak zu Dark und wieder zu Torak.
Torak wartete.
Schließlich schüttelte Dark den Kopf. »Nein. Ich kann dich nicht gehen lassen.«
Kapitel 29
»Einen Tag« sagte Renn, während sie über die Felsblöcke humpelte. »Um mehr habe ich nicht gebeten. Nur um einen Tag!«
Ein Stein sauste an ihr vorbei und zersprang hinter ihr.
»Verzeihung«, entschuldigte sie sich beim Verborgenen Volk.
Sie mochten es nicht besonders, wenn sie zu laut redete. Sie mochten sie überhaupt nicht besonders. Trotzdem hatten sie ihre Anwesenheit bisher hingenommen; vielleicht wegen der kleinen Bündel aus Ebereschenzweigen, die sie an jeder Wegmarkierung hinterlassen hatte.
Torak hatte sich vor zwei Tagen auf den Weg gemacht. Die Schwäne wollten eigentlich sofort weiterziehen, aber Renn hatte darauf bestanden, dass sie am Eingang der Schlucht blieben. Sie hatte einen verzweifelten Tag im Lager verbracht und mit den Zähnen geknirscht, während sie darauf gewartet hatte, dass ihr Knöchel besser wurde. Am darauffolgenden Morgen hatte sie den Schwänen weisgemacht, dass er tatsächlich kaum noch wehtat, und war Torak gefolgt. Sie hatten nicht versucht, sie aufzuhalten. Sie hatten ihr lediglich Proviant mitgegeben und zugesehen, wie sie aufgebrochen war.
Zuerst war es ganz gut gegangen. Toraks Spur war leicht zu verfolgen. Ihr Knöchel tat zwar noch weh, aber sie konnte wenigstens auftreten. Sie war bei jedem Geräusch aufgeschreckt, doch ihr Schamanengespür hatte ihr gesagt, dass Eostras Geschöpfe weit weg waren. Am Nachmittag hatte sie dann eine ermutigende Entdeckung gemacht: ein mit Steinen befestigtes Lager, unverkennbar von Torak. Sie hatte die Nacht darin verbracht und sich beim Einschlafen vorgestellt, was sie ihm sagen würde, wenn sie ihn eingeholt hatte.
An allen Gliedern steif, frierend und voller Angst war sie aufgewacht. Die Mondsichel hing bleich am Morgenhimmel. Die übernächste Nacht war die Nacht der Seelen.
Sie war schon weit gegangen, als sie die Knochen eines Hasen fand, säuberlich von Raben abgepickt. Daran war nichts Ungewöhnliches; trotzdem war ihre Hand unwillkürlich zu ihren Stammesfedern gewandert. Etwas Tückisches lag in der Luft. Hier waren schlimme Dinge geschehen. Das Böse war tief in die Felsen eingedrungen.
Obwohl das alles schon vor geraumer Zeit stattgefunden hatte,
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