Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
Vom Netzwerk:
und Stelle.
    Haare.
    Im Haar sitzt ein Teil der eigenen Nanuak. Deshalb wird das Todeszeichen für die Weltseele auf die Stirn gemalt.
    Und genau darauf, fiel es Renn mit einem Mal ein, hatte es der Tokoroth in der Nacht nach dem Eissturm abgesehen: Toraks Haare. Wenn Eostra bis zur Nacht der Seelen einige seiner Haare in ihren Besitz bekam, konnte sie seine Weltseele und seine Macht an sich reißen.
    Es war entsetzlich einfach. Vielleicht war das auch der Grund, warum Eostra ihren Tokoroth ausgesandt hatte: Um sie zu quälen und ihnen zu zeigen, dass es ein Kinderspiel für sie war, eine Haarsträhne von Torak in die Hände zu bekommen.
    Renn schritt immer schneller aus. Sie watete durch Schneewehen und rutschte über eisiges Geröll. Sie rannte an Bärentraubenbüschen vorüber, tiefrot wie vergossenes Blut.
    Ein großer Vogel schoss aus dem Himmel und riss ihr die Kapuze herunter.
    Dann wurde sein Flügelschlag wieder leiser. Renn versteckte sich hinter einem Stein. Kurz darauf vernahm sie die Flügelschläge erneut. Zu laut für eine Eule, dachte sie.
    Rip landete vor ihrem Versteck und schnatterte ihr ein aufgeregtes Kek-kek-kek! entgegen.
    Renn lachte nervös. Rip schwang sich in die Luft und flog davon. Quork!
    Als Renn ihm nicht folgte, kam er zurückgeflogen.
    Renn biss sich auf die Lippen. Toraks Spur führte geradeaus, aber Rip wollte, dass sie ihm in einen Hohlweg folgte.
    Quork! , krächzte er ungeduldig.
    Renn folgte ihm.
    Sie war noch nicht weit gegangen, als sich der Nebel lichtete und sie etwas zwischen den Felsen liegen sah. Rip und Rek kreisten darüber wie über einem Kadaver.
    Renns Magen wollte sich umdrehen. Es war ein Kadaver.
    Sämtliche Geräusche verstummten, als sie darauf zustolperte.

Kapitel 30

    Dunkelfells Atem hörte sich an wie ein röchelnder Husten, der ihre Flanken erbeben ließ.
    Als Renn sich neben sie kniete, hob die Wölfin den Kopf und versuchte es mit einem kleinen Begrüßungsbellen. Die Anstrengung war zu groß. Sie ließ den Kopf wieder sinken.
    Renn zog ihren Fäustling aus und legte eine Hand auf Dunkelfells Seite. Sie spürte jede einzelne Rippe. Die Wölfin hatte seit Tagen nichts gegessen.
    Wie hatte sie den ganzen Weg bis hierher zurückgelegt?
    Renn stellte sich vor, wie Dunkelfell sich nach dem Angriff der Eule aus dem Fluss gehievt hatte und losgelaufen war: geschunden, sich nach ihren Jungen verzehrend und fest entschlossen, ihren Gefährten zu finden. Vielleicht hatte sie Wolfs Geheul hierher geführt, die Stärke des Bandes zwischen ihnen.
    Mit der Ausdauer der Wölfe, die ausgeprägter als die der widerstandsfähigsten Menschen ist, hatte sie den Eissturm überlebt und es über die Kahlen Berge geschafft. Hatte Krukoslik nicht von Jägern erzählt, die einen toten Wolf gefunden und Nahrung für seinen Geist zurückgelassen hatten? Vielleicht war das Dunkelfell gewesen. Vielleicht hatte die Gefälligkeit von Fremden ihr das Leben gerettet.
    Renn riss ihren Vorratsbeutel auf und legte ein Stück Fleisch vor die Schnauze der Wölfin. Dunkelfell beachtete es nicht.
    Rip kam angesegelt und schob sich vorsichtig näher.
    »Nein!«, schimpfte Renn.
    »Sie braucht es dringender.«
    Der Rabe warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und stolzierte beleidigt davon.
    Renn schubste das Fleisch näher an Dunkelfell heran. Immer noch keine Regung.
    Überrascht berührte Renn eine der großen schwarzen Vorderpfoten.
    Dunkelfells Muskeln spannten sich und sie stieß ein leises Knurren aus.
    Renns Sorge wuchs. Der Ballen war richtig heiß. Dann fiel ihr auf, dass Dunkelfells Nase stumpf aussah. Ihre Zunge war grau verfärbt.
    Renn beugte sich näher heran – und wich erschrocken vor dem Gestank zurück. Nicht der Hunger hatte die Wölfin niedergestreckt. Die Krallen der Eule hatten ihren Vorderlauf von der Schulter bis zum Schienbein aufgeschlitzt. Die Wunde hatte sich entzündet. Erst jetzt sah Renn den fauligen, triefenden, grünen Eiter.
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Dunkelfell lag in einer Mulde unter einem Felsen. Es konnte nicht allzu lange dauern, daraus ein Lager zu machen. Ein Stück zurück war sie an einem Büschel Heidekraut vorbeigekommen, genau wie das, das Juksakai immer zum Feuermachen benutzte. In ihrem Medizinbeutel waren genügend Kräuter, denn sie hatte ihn vor ihrem Abschied von den Schwänen frisch aufgefüllt – und sie kannte einen Heilzauber.
    Sie dachte kurz daran, dass sich damit ihre Chancen, Torak zu finden, natürlich verringerten.

Weitere Kostenlose Bücher