Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
umkippen.
»Befreit uns von der Seelenesserin! Ein für alle Mal!«
Eine von oben herabhängende Säule fiel auf den Opfertisch und schlug ihn entzwei. Eostra wich taumelnd, noch immer die Bruchstücke des Feueropals haltend, vor den Trümmern zurück. Dabei kam sie dem Rand der Kluft, die die Höhle durchzog, zu nahe, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem gellenden, unheimlichen Schrei hinein.
Doch im Fallen verfing sich ihr Spieß im Saum von Toraks Wams.
Entsetzt sah Renn, wie er sich dagegen stemmte, aber das Gewicht war zu groß. Und er hatte kein Messer, um sich loszuschneiden.
» Torak! «, schrie Renn.
Torak fiel auf die Knie.
Die Seelenesserin riss ihn mit sich in den Abgrund.
Kapitel 39
Er befindet sich tief in der Erde. Es ist kalt und dunkel. In seinen Ohren brüllt es, in seine Nase dringt der Geruch von Fäulnis. Ist er schon tot?
Jemand trägt ihn. Sie tragen ihn wohl zur Schädelstätte.
Jetzt legen sie ihn ab, fahren mit den Händen über sein Gesicht, murmeln einen Totenspruch. Lassen ihn allein.
Die Sterne kreisen über ihm. Monde gehen auf und unter und wieder auf. Alles, was war und ist und sein wird, durchdringt ihn. Er ist ein Neugeborenes in der Höhle, saugt an den Zitzen seiner Wolfsmutter. Er rennt von der Lichtung weg, auf der Fa im Sterben liegt. Er stürzt im Berg der Geister in den Abgrund.
Jetzt liegt er wieder unter den Sternen. Kleine, schemenhafte Menschen beugen sich über ihn. Er blickt in eigenartige, graue, spitze Gesichter mit mondhellen Augen.
Wo ist Renn?, will er fragen. Wo ist Wolf?
Die Augen erlöschen. Er ist wieder allein.
Noch immer kreisen die Sterne über ihm. Dunkelstes Licht ist der kälteste Fund. Das letzte Licht, dass ein Mensch sieht, bevor er stirbt.
Er spürt keinen Schmerz. Nur eine große Leere. Er will nicht alleine sterben.
Aber er ist so müde.
Er steht da und schaut auf seinen Körper hinab. Er will nicht gehen, aber er muss, er ist so müde. Mit einem widerstrebenden Seufzen dreht er sich um und macht sich daran, zu den Sternen hinaufzuklettern.
So hell hatte Renn den Ersten Baum noch nie leuchten sehen. Der ganze Himmel erstrahlte in seinem wogenden, schimmernden Grün, das darauf wartete, Toraks Geist zu empfangen.
Der weißhaarige Junge zog den Vorhang vor den Eingang seiner Höhle und hieß sie beim Feuer sitzen, wo er einen wollenen Umhang um ihre Schultern legte und ihr einen dampfenden Becher in die Hände drückte. Sie zitterte so sehr, dass sie das meiste davon verschüttete. Torak und Wolf waren fortgegangen. Sie hatten sie allein in der Leere zurückgelassen.
Benommen betrachtete sie die weißen Steinkreaturen, die ihr aus jedem Riss entgegenblickten. Nichts war wirklich. Diese Höhle nicht und auch nicht die albtraumhafte Flucht durch den Tunnel, mit den herabfallenden Steinen und Dark, der sie in Sicherheit gezerrt hatte. Torak war tot. Unmöglich.
Auf der anderen Seite des Feuers erwachten die Raben – der weiße und die schwarzen – und schlugen gereizt mit den Flügeln.
»Die Geister haben sie aufgeschreckt«, sagte Dark und wärmte seine Hände am Feuer. »Die meisten sind zu ihren Stämmen gegangen, aber ein paar bleiben immer zurück.« Er redete weiter. Er redete von seiner Schwester, die nicht hier war und deshalb wohl ihren Frieden im Himmel gefunden hatte – aber Renn hörte ihm schon nicht mehr zu.
Die Nacht der Seelen. Sie stellte sich vor, wie die Bergstämme mit ihren Toten feierten, sie dachte an ihren eigenen Stamm, weit weg von hier im Wald. Vielleicht spürten sie bereits, dass Eostras Bedrohung vorbei war.
»Renn«, sagte Dark und riss sie aus ihren Gedanken. »Er hat sich die Todeszeichen aufgemalt. Wenigstens bleiben seine Seele zusammen.«
Aber er hat keinen Beschützer, dachte sie trostlos. Wer soll ihn zum Ersten Baum führen?
Wolf sah zu, wie der letzte Hauch-der-geht im Abgrund verschwand.
Er war der Schar aus dem Berg hinausgefolgt, in der Hoffnung, sie würden ihn zu Groß Schwanzlos führen. Das hatten sie nicht getan. Nun stand er in der heulenden Dunkelheit, deren Wind sich in sein Fell krallte und sämtliche Gerüche verscheuchte.
Wolf hatte Angst. Es war anders als die anderen Male, als er von seinem Rudelgefährten getrennt gewesen war. Diesmal war es, als rauschte ein großes Flinkes Nass zwischen ihnen. Eines, das sich nicht überqueren ließ.
Winselnd lief Wolf über das Weiche Weiße Kalt und wieder zurück.
Im Heulen des Windes und dem Rauschen
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