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Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Keller
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Erich stolperte, weil er den Blick nicht davon abwenden konnte.
    Der Baum war riesig. Er war höher als die höchsten Türme in der Stadt und der Schwerkraft trotzend reckte er seine Äste weit nach alle Richtungen. Und noch etwas war leicht zu erkennen: Auch wenn kein einziges Blatt an den Zweigen zu hängen schien, war dieser Baum ohne jeden Zweifel lebendig, denn er war unablässig in Bewegung. Er wiegte sich hin und her obwohl kein Lüftchen den Dunst um ihn herum in seiner Ruhe störte.
    Im selben Moment als der Baum auftauchte, wurden auch die Dämonen der Hürnin für mich sichtbar. Kerns bleicher Dämon, dessen Namen ich noch immer nicht wusste, Hund, der Dämon des Halken und Nuur, der Dämon von Sarn. Wir starrten den Baum an und ich wusste, dass wir alle das Gleiche dachten und dass sogar Hund begriff, dass dieser Baum dort einen Dämon in sich beherbergte, vielleicht sogar die eigentliche Gestalt des Dämons war. Erinnerungen krochen in mir hoch, Erzählungen von dem ewigen Krieg, den wir Horndämonen in unserer Welt führten. Ich erinnerte mich plötzlich, dass unsere Welt voll war von dämonischen Wesen, die keine Sekunde ruhten und darauf lauerten uns Horndämonen für immer auszulöschen.
    Ich wusste, dass es Menschen gab, die sich vor Spinnen oder Schlangen ängstigten, obwohl sie nichts von ihnen zu befürchten hatten. Diese Furcht lag tief verwurzelt in ihrem Inneren und selbst mit der stärksten Magie war es schwierig die Wurzeln dieser Angst auszureißen. Genauso tief saß die Angst vor dem Baum in mir und den anderen Dämonen. Obwohl wir ihn jetzt zum ersten Mal sahen, wussten wir, dass er unser aller Tod sein würde. Er war ein Feind.
    „ Wir sollten versuchen zu fliehen. Und zwar jetzt. “, sagte Kerns Dämon. „ Oder mit unseren Herren zusammen bei dem Versuch sterben. Alles ist besser, als diesem Monster ausgeliefert zu werden. “
    „ Sei still, Karak. “, fuhr Nuur ihn an. „ Das Kind kann uns hören. “
    Das verwirrte mich. Erst als mir klar wurde, dass die anderen Horndämonen mich mit feindseligen Blicken anstarrten, verstand ich, dass er damit mich meinte. Das Kind? Warum war ich ein Kind für sie?
    „ Wartet! Was hat das zu bedeuten? “, rief ich, aber vergeblich. Die Kamele setzten ihren Weg fort und die anderen Dämonen wurden erneut unsichtbar für mich. Aber auch wenn ich sie nicht mehr sehen konnte, war ich mir sicher, dass sie weiterhin darüber redeten, was geschehen sollte, so wie sie es schon die ganze Zeit über getan hatten. Das traf mich wie ein Schlag. Eine Weile hatte ich gelernt damit zu leben, dass ich von den anderen Horndämonen ignoriert wurde. Ich hatte es auf unsere Natur geschoben, die unsere Herren in den Mittelpunkt unserer Welt stellt und uns alles andere ignorieren lässt, aber das war natürlich Selbsttäuschung. Die anderen Dämonen hatten einen sehr viel konkreteren Grund mich nicht an ihren Gesprächen teilnehmen zu lassen, auch wenn es wohl kaum daran liegen konnte, dass ich noch ein Kind war. Ja, nach den Maßstäben der Horndämonen war ich vielleicht noch ein Kind. Erst nach einem Hürninleben, wenn ich in meine eigene Welt zurückkehren würde, könnte ich diese Bezeichnung ablegen, aber damit unterschied ich mich nicht von Karak, Nuur und Hund. Warum konnten sie mich dann als Kind bezeichnen? Gab es etwas, das sie mir verschwiegen? Gab es etwas, das ich nicht wusste? Mit einem unguten Gefühl musste ich an das denken, was Sirr über meine Erinnerungen gesagt hatte. Ich fühlte mich wie ich mir Erich vor dem Blutritual vorstellte: ahnungslos und schwach. Ich überlegte kurz, ob ich Erich davon erzählen sollte, um mir ein wenig Luft zu machen, aber er hatte seine eigenen Probleme und genug damit zu tun auf den Beinen zu bleiben.
    Nach und nach schüttelten die anderen Hürnin ihre Köpfe. Sie lehnten den Vorschlag ihrer Dämonen jetzt einen Ausbruchsversuch zu wagen ab.
    Bei der Stadt, in die wir hinabstiegen musste es sich um Lazara handeln, aber selbst Sarn, der sie schon einmal besucht hatte, erkannte sie kaum wieder. Ein paar markante Gebäude standen immer noch an Ort und Stelle, aber vieles hatte sich drastisch verändert. Vor allem der Zustand der Häuser und Straßen. Ein paar waren noch gepflastert, aber selbst diese versanken in einer stinkenden Schicht aus Abfall und Tierkot. Und den Behausungen der Stadtbewohner ging es nicht besser. Allerorten bröckelte Putz und ganze Straßen standen leer. Die wenigen Menschen, die uns

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