Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
dass es sich um ein Ritualmesser aus Hornhus handelte. Auch die anderen sahen nun, was Bräg in der Hand hielt und ihre Gedanken rasten. Woher hatte er dieses Messer? War Chulak ihnen etwa gefolgt und ebenfalls gefangen genommen worden? Hatten die Ziegenhirten Patrouillen auf dem Sommerfeld? Und warum behauptete er dieses Messer von ihnen zu haben?
„Also? Woher habt ihr dieses Messer der frevlerischen Hörn?“
Hörn? Der Mann hatte einen leichten Akzent, aber das war das erste fremde Wort, das wir hörten, seit wir Hornhus verlassen hatten. Es war nicht schwer zu erraten, dass er damit die Hürnin meinte, dennoch klang es seltsam. Aber dass er die Hürnin so ansprach, musste auch bedeuten, dass er keine Ahnung davon hatte, dass er Hürnin vor sich hatte, was ein winziger Lichtblick in dieser ausweglosen Situation war. Sarn und die anderen schienen das auch zu erkennen und hielten deshalb wohlweislich erst einmal den Mund.
Bräg funkelte sie böse an und brüllte zu ihnen hinunter: „Der Baum ist noch viel zu gut für euch. Ziegentöter! Grabräuber! Schafft sie mir aus den Augen!“
Man schleppte die Hürnin wieder zurück zu dem Platz, an dem sie schon einmal gefangen gehalten wurden und fesselte sie erneut an durchbohrte Pflöcke, an die man sonst die Kamele band. Inzwischen war es dunkel geworden und eine feuchte Kälte kroch von der Wasserstelle zu ihnen herauf.
„Woher hat er das Messer?“, flüsterte der Halken, als ihre Bewacher außer Hörweite waren.
„ Sie haben es in Sirrs Tasche gefunden.“, antwortete Sarn nachdenklich. „Die, die sie fallen gelassen hat, als der Wald sie erwischt hat. Ich habe doch gewusst, dass nicht nur eines dieser Messer abhanden gekommen ist. So muss es gewesen sein: Kern hat das eine gestohlen. Das haben wir später Chulak zurückgegeben. Aber Sirr hat auch eines an sich genommen, ohne dass es jemand bemerkte. Wer weiß, was sie damit wollte.“
„ Wir werden sie bald fragen können.“, sagte Kern fröhlich und den anderen lief eine Gänsehaut über den Rücken, weil er wieder einmal auf seine Weise die Wahrheit sagte.
„ Ja, das werden wir. Versucht ein wenig zu schlafen.“
Der Halken schnaubte. „Der Halken wird erst wieder schlafen, wenn er tot ist.“
Die Nacht war kalt und ungemütlich. Erich hätte schwören können, dass er kein Auge zugetan hatte, aber er fand doch ein wenig Ruhe. Er konnte sich nur nicht mehr an seine Alpträume erinnern. Aber der Marsch nach Lazara machte die fehlenden Alpträume mehr als wieder wett.
Der Weg führte uns zunächst durch felsiges Gelände, das aussah, als hätte ein untalentierter Riese einen kaputten Hobel ausprobiert. Tiefe Furchen zogen sich durch wie poliert wirkende Felsplateaus und mehrmals überquerten wir Geröllfelder, die wie zusammengeschobener Abfall wirkten. Für die Kamele waren die ständigen Höhenunterschiede und der unsichere Untergrund kein Problem, Erich und den anderen machte er aber ziemlich zu schaffen. Das Schlimmste war, dass sie sich noch nicht einmal abstützen konnten, wenn sie hinfielen, da ihre Hände immer noch auf dem Rücken zusammengebunden waren und die Holzscheiben um ihren Hals ihre Sicht einschränkten. Wer sich nach einem Sturz nicht schnell genug aufrappeln konnte, wurde von den Kamelen einfach weitergeschleift. Mehr als einer der anderen Gefangen holte sich so schmerzhafte Abschürfungen.
Auf unserem Weg passierten wir einige Gehöfte, die den Ziegenhirten als Unterschlupf dienten und Erich musste an das denken, was Sepatrik der Heiler über gute Ernährung und regelmäßiges Waschen gesagt hatte. Die erwachsenen Männer und Frauen waren zwar in Tücher gehüllt, aber die weniger dick vermummten Kinder zeigten deutliche Anzeichen schlechter oder mangelnder Nahrung. Wenn sie ihre Münder zu einem hämischen Grinsen verzogen, nachdem sie Bräg Platz gemacht hatten, glänzten daraus löchrige, verfärbte Zähne hervor.
Außerdem waren ihre nackten Arme und Beine mit Pusteln und Ausschlag bedeckt. Mehr als eines von ihnen hustete.
Nachdem wir ein ausgetrocknetes Bachbett überquert hatten, stiegen wir einen letzten Höhenrücken hinauf, bevor sich vor uns ein weiter Talkessel ausbreitete, aus dessen Mitte sich eine Stadt erhob. Im Staub und Rauch, der über dem Tal hing, waren keine Details zu erkennen, aber im Osten, reckte ein gewaltiger pechschwarzer Baum seine Äste wie Krallen in den Himmel. Wie ein Stich mit einer Nadel durchfuhr uns alle dieser Anblick und nicht nur
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