Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Keller
Vom Netzwerk:
hoffen, dass ihre Chancen außerhalb der Stadt besser sein würden. Ich bezweifelte es.
    Jedem der dreißig Gefangenen aus dem Verlies stellte man zwei Bewacher zur Seite, hinzu kamen weitere Männer auf Kamelen. Dann führte man uns nach Osten.
    Die Kälte der Nacht lag noch spürbar über der Stadt. Die Sonne war zwar bereits am Horizont zu erahnen, aber noch längst nicht über den Flachdächern der Häuser aufgegangen. Die wenigen Menschen, die uns begegneten, traten nicht einfach nur beiseite, als sie uns sahen, sondern machten sich so schnell sie konnten aus dem Staub. Nackte Angst war aus ihren Augen herauszulesen. Sie fürchteten offenbar, dass man sie in die Kolonne der Abgeurteilten mit einreihen würde.
    Wir bogen um eine Straßenecke und befanden uns danach auf der Hauptstraße, die quer durch die Stadt führte. Auch sie war schmutzig, aber über weite Strecken war das Pflaster noch intakt. Hier waren nur noch Soldaten unterwegs und zwar eine ganze Menge von ihnen.
    Vor den Gefangenen ragte hinter einigen Hügeln der Baum auf. Träge wie eine ausgekühlte Eidechse bewegten sich seine Zweige durch die windstille Luft und Erich konnte erkennen, dass die schwarze Rinde feucht schimmerte. In unregelmäßigen Abständen sah er hellere Flecken im Schwarz des Baumes, konnte aber nicht erkennen, um was es sich dabei handelte. Erst als wir um einiges näher heran waren, wurden die Umrisse deutlicher und verdichteten sich zu Armen, Körpern und Gesichtern. Der Baum war riesig. Je näher wir ihm kamen, desto deutlicher wurden die gigantischen Ausmaße, die allen Naturgesetzen spotteten. Und der Baum war ein Menschenfresser. Man hatte die zum Tode Verurteilten nicht an seinen Stamm oder seine Äste gebunden oder genagelt, wie es teilweise bei anderen Völkern üblich war, sondern sie einfach dem Baum überlassen, damit er sie fressen konnte. Wie mit Wachs hatte er sie mit seinem Holz umschlossen und eingezwängt. Erich war so sehr davon entsetzt, dass er nicht mitbekam, wie ihn seine Bewacher mit einem hämischen Grinsen musterten. Sie konnten es kaum erwarten, bis ihm das gleiche Schicksal widerfuhr.
    Aber noch war es nicht so weit. Als wir die Kuppe des ersten Hügels erreichten, konnten wir sehen, dass um den Baum herum eine regelrechte Plantage errichtet worden war, in denen weitere kleine Dämonenbäume heranwuchsen. Anders als der große Baum besaßen sie stachelige kleine Blätter und zu unserer Überraschung zogen Ziegen zwischen den ordentlich gepflanzten Reihen der Bäume hindurch, um diese Blätter abzuweiden. Ein widerlich süßlicher Gestank lag in der Luft.
    Und dann sahen wir, dass wir nicht die ersten Verurteilten an diesem Morgen waren, die zum Baum geführt wurden. An einem Querast, der von seinem eigenen Gewicht zu Boden gedrückt worden war und ein Gewirr von Wurzeln ausgebildet hatte, die sich wie Gedärme über den Boden ergossen, stand eine Gruppe von Bewaffneten um eine zerlumpte Gestalt herum. Sie verkündeten den Urteilsspruch oder sprachen irgendwelche rituellen Worte und drückten den Mann dann mit ihren Schlingenstangen gegen den Ast. Wie ein Grashalm, der sich in der Hitze krümmt, wand sich der Mann, um dem Griff des Baums zu entkommen, aber sobald seine Haut die Rinde berührte, begann sie fest mit ihr zu verwachsen und er verlor die Kontrolle über seine Muskeln und Nerven. Wie ein Ertrinkender versuchte er seinen Kopf oben zu halten, aber die Rinde überzog sein Gesicht um nur seinen Mund frei zu lassen, aus dem ein langgezogenes unmenschliches Stöhnen drang, das einfach nicht mehr aufhören wollte.
    Als wäre das das Stichwort für weitere Kehlen ihren Schmerz in die Welt zu schreien, geriet der Baum überall in Bewegung. Leiber begannen zu zucken, blinde Augen öffneten sich, weinten harzige Tränen und aus hunderten von Mündern strömte eine Litanei der Qualen, wie splitterndes Holz und fallende Baumstämme. Genau in diesem Moment stieg die Sonne über den Horizont und verwandelte die Szenerie in einen Scherenschnitt aus Pech und Gold.
    Das war der Moment, auf den Sarn gewartet hatte. Selbst die Wachen, die dieses Schauspiel schon unzählige Male mit angesehen haben mussten, wandten ihre Aufmerksamkeit für einen Moment von ihren Gefangenen ab und ohne Vorwarnung versuchten Sarn und der Halken die Flucht. Aber die Bewacher waren gute Hirten, die wussten, wie sie mit ihrer Herde umzugehen hatten. Der Halken schaffte es immerhin sich einer Waffe zu bemächtigen und einen der

Weitere Kostenlose Bücher