Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
ist es auch anders. Vielleicht muss man nur einen Weg finden.“
„ Was wäre passiert, wenn ich in die Blutschale hineingezogen worden wäre? Wäre ich gestorben?“
Sarn nickte mit besorgtem Gesichtsausdruck.
„Da bin ich mir nicht so sicher. Wer oder was auch immer nach dir gegriffen hat, er hat dich für wichtig gehalten. Wichtig genug, dass dich ein anderer aus der Dämonenwelt hier her gebracht hat.“
„ Meine Eltern …“, murmelte Erich.
„ Wahrscheinlich.“
„ Wenn das Sommerfeld ein Tor ist … oder Drachall … “ Seine Stimme versagte, aber Sarn wusste auch so, was er sagen wollte.
„ Die Mauer der Welt ist dünn an diesen Orten. Du hast gesehen, was das für das Sommerfeld bedeutet. Aber in Drachall …“
„ Willst du deswegen dort hin?“
„ Ja. Es wird immer deutlicher, dass dort etwas auf uns wartet.“
Eine verdrängte Erinnerung versuchte sich einen Weg durch meine Gedanken bis zur Klarheit der Erkenntnis zu bahnen, blieb aber an einer unüberwindlichen Barriere stecken. Irgend etwas war auf dem Sommerfeld passiert. Was auch immer es gewesen sein mochte es überzeugte mich, davon, dass Sarn auch mit Drachall Recht hatte. Irgend etwas wartete dort auf uns.
Die beiden blieben noch eine Weile schweigend sitzen, bis Sarn sich schließlich an seinem Stab hochzog und den Staub von der Hose klopfte. Dann machten wir uns wieder auf den Weg.
Näher an Chonled wurde es einfacher voranzukommen. Die Grundmauern von Hütten zeigten an, wo einst Bedienstete Felder bestellt oder Vieh geweidet hatten und auch wenn von den Brücken, die über die verzweigten Arme des Flusses geführt hatten, nur noch Ecksteine oder der eine oder andere windschiefe Pfeiler übrig geblieben war, mussten wir nun weniger oft Böschungen überwinden und wenn, dann waren sie auch nicht mehr ganz so hoch. Intensive Bewirtschaftung und Bewässerungsgräben hatten Seitenarme früh mit Schlamm gefüllt oder ganz verlanden lassen und auch wenn wir keinen guten Überblick über das Gebiet bekamen, ließ sich erahnen, dass hier ein sorgfältig planender Verstand am Werk gewesen war, der die störende Natur in ihre Schranken gewiesen hatte.
Wir erreichten die Grenze zu Burg Chonled noch vor dem Sonnenuntergang. Wie die konzentrischen Ringe um das Sommerfeld schnitten hier drei eng beieinander liegende Bänder durch die Landschaft, die abgestorbene Büsche und zähes Gras von einem sorgfältig gepflegten Garten trennten, in dem sich kein einziger Halm bewegte, obwohl außerhalb ein böiger Wind wehte. Die Burg war auf und an einen bläulich schimmernden Findling gebaut, den einst möglicherweise ein Gletscher oder eine gewaltige Flutwelle hier her transportiert hatte. Chonled war ein stattliches Gebäude, das möglichen Angreifern drei an den blauen Felsen gelehnte stabile Mauern entgegenstellte, hinter denen der Bergfried wie ein Speer in den Himmel ragte. Erich kannte diese Art zu bauen aus den Archiven. Frühe Generationen von Hürnin hatten damals noch einen recht einheitlichen Baustil gehabt, bevor sie immer mehr Einflüsse von anderen Völkern aufgenommen hatten. Und dieser Stil ließ sich mit dem Wort brachial am besten beschreiben. Die frühen Baumeister hatten nichts übrig für Verzierungen und Schnörkel. Sie setzten auf Größe und Haltbarkeit. Und auf Freiräume. Man hatte nach der Erfahrung gebaut, dass es leichter war einen bestehenden Raum durch Zwischenwände zu unterteilen als zu versuchen später irgendwo anzubauen oder aufzustocken, wenn Bedarf entstehen sollte. Oft ging diese Rechnung auf und ein Bauwerk füllte sich im Laufe der Jahre nach und nach mit Leben, aber genauso oft holte man sich dadurch nur Spinnen, Kälte und das Echo der eigenen Stimme zu sich.
„ Da vorne sind die Kamele.“, flüsterte Erich. Wie auf einem Gemälde waren die drei Tiere auf denen Sirr, Kern und der Halken hier her gekommen waren, mitten in der Bewegung erstarrt, so wie alles andere um sie herum. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte Erich eine Libelle, die mitten in der Luft hing.
Sarn hob einen Stein vom Boden auf und warf ihn über die unsichtbare Schneise zur Mauer von Chonled hinüber. Der Stein stieg rasch bis zu seinem Scheitelpunkt, verlangsamte beim Abstieg aber sein Tempo und blieb schließlich regungslos in der Luft hängen.
Sarn stieß einen überraschten Pfiff aus, während es Erich einfach die Sprache verschlug.
„ Hoffen wir, dass wir weiter kommen als dieser Stein.“, sagte Sarn leise. „Bleib
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