Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
sondern dass er etwas gefunden hatte, das während unseres Aufenthalts bei Drigg herangewachsen war. Er hatte versucht zu fliehen und festgestellt, dass er nicht dazu in der Lage war. Aber er stand immer noch vor der gleichen Frage, die er sich von dieser Entscheidung gestellt hatte: Sollte er versuchen sein Schicksal zu verändern oder den vorgezeichneten Weg bis zu seinem Ende gehen? Diese Frage ließ sich nicht mehr damit klären, indem er weglief. Sie suchte sich nur ein anderes Ventil. Und in den Scharifoi glaubte Erich einen Ausweg zu finden. Er musste diesen Ort gar nicht verlassen. Er konnte stellvertretend für sich selbst die Scharifoi benutzen ohne dabei Konsequenzen fürchten zu müssen. Oder hatte das nur Konsequenzen, die er einfach noch nicht sehen konnte?
Drei weitere Tage blieben wir in Driggs Stall ohne dass sich der Magier erneut blicken ließ.
Dafür lösten sich Erichs Visionen in immer schnellerer Folge ab. In den drei Tagen schlüpfte er vier Mal in den Körper einer Knochenfrucht, aber nur ein Mal hatte er ungestört Gelegenheit mit ihr zu experimentieren. Er befand sich in einem Kerker, dessen Architektur er sofort als einen alten Hürninbau identifizierte. Die Gänge waren so breit, dass er auch im massigen Körper der Knochenfrucht keine Probleme hatte sich frei zu bewegen und zwischen den Räumen zogen sich immer wieder Schächte durch Wände und Decken, die wie Kamine gemauert waren, deren Funktion aber nicht zu erkennen war. Erich entdeckte andere Knochenfrüchte, die hier offenbar Wache standen, aber was sie bewachten, konnte Erich zunächst einmal nicht sehen. Erst als er sich in den Gängen umschaute und auch einen Blick in einen der Räume warf, sah er so etwas wie Eier, die fein säuberlich an den Wänden in Regalen aufgereiht darauf warteten, dass was auch immer in ihnen schlummerte zur Reife gelangte. Die Neugier ließ Erich die klauenhand der Knochenfrucht ausstrecken, aber die Vorsicht ließ ihn sie wieder zurückziehen. Was auch immer sich in den Eiern befand, er hatte Angst davor es zu stören, selbst im Körper der Knochenfrucht. Auch die anderen Visionen, bei denen er nur Zuschauer bleiben konnte, zeigten ihm wenig Ermutigendes. Der Scharif befand sich mitten in einem Krieg von dessen Ausmaßen Erich nur ein Bruchstück erfassen konnte. Aber Erich begriff, dass das nicht sein Krieg war. Selbst jetzt, da er den Körper der Knochenfrüchte kontrollieren konnte, war er zum Zuschauen verdammt. Er konnte hier und da Unruhe stiften, mehr aber auch nicht. Was er tat machte keinen Unterschied.
In den wenigen Tagen, bevor die Hürnin mit Drigg nach Drachall aufbrachen, sah er mehr von der Welt als andere in ihrem ganzen Leben. Im Körper der Knochenfrüchte besuchte er die entlegensten Winkel des Gebiets, das vom Scharif kontrolliert wurde und er staunte darüber, wie unterschiedlich die Menschen, Baustile und Landschaften waren. Auch die Herrschaft des Dämons war nicht überall gleich. Manche Städte und Dörfer unterwarfen sich willig seinen Befehlen, andere probten offen den Aufstand und wieder andere konnten es sich leisten mit den Abgesandten des Scharif zu verhandeln. Obwohl die Sinnesorgane der Knochenfrüchte ihm nur begrenzte Informationen lieferten, lernte Erich, wie es überhaupt möglich war ein Reich, das so riesig war wie das des Scharif, zu lenken und unter Kontrolle zu halten. Das funktionierte nur durch Mittelsmänner, die bereit waren die Befehle des Scharif auszuführen. Erich bekam mit, dass es einige unter ihnen gab, die ihre Position zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzten, aber es gab dafür auch andere, die alles taten was in ihrer Macht stand, um den Menschen, die sich ihrer Herrschaft beugen mussten, ein gutes Leben zu ermöglichen. Ein Ziegenhelmträger setzte die Scharifoi sogar dazu ein, dass sie einen neuen Kanal aushoben, der die Felder der Bauern mit Wasser versorgte, obwohl sie eigentlich vor den Toren seiner Stadt Wache stehen sollten.
Einmal hatte Erich auch das Glück eine Karte zu sehen, auf der ein Landstrich verzeichnet war, der einen großen Teil des Reiches ausmachte. Ganz im Norden lagen die Sümpfe mit Hornhus, die dargestellt wurden als wären sie das Ende der Welt. Nach allem was Erich darüber wusste, mochte das durchaus zutreffend sein. Nach Westen wurde das Land von einer Wüste oder Einöde abgegrenzt, nach Osten vom Meer. Im Süden prallte es auf eine gerade Linie, bei der es sich um die Grenze zum Land von Peifor handeln musste.
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