Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
es, wenn sie ein Vogel wäre und über Arun flöge, was würde sie sehen? Siedlungen und Gehöfte, Reisende, die sich um ein funkenspuckendes Feuer drängen ... Der Wind zerrte wieder an ihr, ließ ihren Mantel klatschen, und sie barg ihre Wange an den Eisenstäben des Gittertores und flüsterte dem Wind zu: »Geh weg!«
Unter einem Stiefel knirschte ein Steinchen. »Ist da jemand?« Die Gestalt kam näher. Es war ein Med-Posten. »Hofmeisterin, laß mich dir das Tor aufmachen.«
»Nein«, sagte Paxe. »Ich gehe.« Der Posten starrte ihr nach. Sie blickte zurück und sah sein bleiches törichtes Gesicht wie einen kleinen Mond im Dunkel schweben. Ich muß wohl sehr merkwürdig klingen, dachte sie, oder sehr merkwürdig aussehen, oder beides.
Sie wanderte südwärts, zur Öffnung des Stiefelschafts hin, ans Ende ihres Bezirks, und herum und zurück an die Grenze zum Batto-Bezirk. Der Posten salutierte, sprach aber nicht. Vielleicht waren sie ja nur zwei Gespenster. Sie ertappte sich über der Vorstellung und befahl sich, keine Närrin zu sein. Sie wandte sich die Straße der Kleinen Birnen hinab, und den nächsten Posten, zu dem sie kam, rief sie an: »Wie geht die Nacht?«
»Ruhig«, antwortete Nekko, eine hochgewachsene dunkle Frau, die man in der Dunkelheit oft mit Paxe verwechselte, beziehungsweise umgekehrt Paxe mit ihr.
Sie wanderte die Breite Reihe hinauf, die den Batto- vom Med-Bezirk trennte und fast die gesamte Grenze entlanglief. Sie ging ans Nordwestliche Tor. Die Stadtmauer ragte fest in dem zauberischen Mondlicht auf; an der Mauer des Torwächterhauses stapfte eine durch das Mauerwerk zwergenhaft klein wirkende Gestalt hin und her. Das zuckende Licht eines Kohlenbeckens huschte kurz über das Gesicht, als sie stehenblieb und sich die Hände wärmte. Dann kehrte sie der wohligen Wärme den Rücken und stapfte wieder auf und ab. Vor der Stadtmauer begann ein Hund zu jaulen.
Paxe bog um die Spitze des Stiefels. Während sie an einem Minto-Wachtposten vorbeikam, sah sie an einer sich bewegenden Hand eine Laterne hin- und herschwingen; Darin-no-Sara, die Minto-Hofmeisterin, machte ihrerseits die Runde und ging nordwärts auf das Stadttor zu. Paxe verhielt im Schatten, bis Darin an ihr vorbei war. Dann ging sie langsam weiter – wie lange war es schon her, daß sie Arrés Salon verlassen hatte? Eine Stunde? Das Licht war unterdessen immer schwächer geworden, und sie spähte über die Schulter, konnte aber die Gestalt des Mondes nicht sehen, nur den Lichtschimmer, der über dem Horizont glomm. Es war also schon nach Mitternacht. Unter ihren Füßen raschelte das Laub im Wind. Der Nebel trieb aus dem Süden herein und wehte in zerfetzten Strähnen um den Kuppelbau des Tanjo. Einer, der in diesem Wetter an den Docks Wache hielt, würde nur eine Wolkenwand sehen, die ins Nichts reichte, und keinen einzigen Stern.
Als die Morgendämmerung sich näherte, hatte sie ihren Bezirk fünfmal abgeschritten. Bei Sonnenaufgang kehrte sie in den Waffenhof zurück, um das Kommando abzugeben. Und wenn sie seltsam aussah oder klang, so verkniff Ivor sich doch jede Bemerkung darüber. Die Sonne stieg wie ein riesiger blinder Adler aus ihrem Nebelnest.
Paxe war müde, und sie wäre gern nach Hause gegangen, um zu schlafen. Doch sie durfte das nicht, noch nicht; sie hatte noch einen Gang zu tun. Sie durchquerte den Minto-Bezirk (an der Drei-Brunnen-Straße vorbei, in der die Kauffrau Vanesi wohnte, wenn sie in der Stadt war) und kam auf Ismeningebiet.
Es war nichts von dem Blutbad des Vortages zu bemerken. Alles wirkte friedlich. Die Fischerleute standen am Flußufer und schauten auf ihre Angelschnüre; Barkassen voller Kornsäcke lagen an ihren Ankerplätzen, und die Strömung und das Gezeitenwasser des Großen Flusses zerrten an ihnen. Rauch und Essensgerüche zogen aus den Häusern, in denen die Bewohner des Viertels aufstanden und sich an ihre Geschäfte machten, und der Duft auf Kohlen röstender Nüsse stahl sich durch die Hintergassen. Der Waffenhof der Ismeninas war voller Menschen; hinter dem hohen roten Zaun hörte Paxe, wie sie die Kommandos nachbrüllten. (Eins – zwei, eins – zwei!) Eine Frau in der Kleidung der Asech wanderte westwärts vorbei. Sie trug ein Netz mit Schnecken über der Schulter, Schnecken, erinnerte sich Paxe, waren für die Asech eine Delikatesse.
Sie machte sich nicht die Mühe, am Eingang anzuhalten, sondern ging um den Hof herum direkt zu Dobrins Kate. Die Fensterschirme waren
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