Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Aber warum würdest du das wollen?«
»Ich ... ich möchte bloß so wissen, wo sie hingegangen sind.«
»Sie sind einfach ausgestorben, meine Liebe«, sagte Rinti. Seine nicht festgebundenen Sandalen klatschten auf den Fliesen. »Sie sind tot.«
»Da ist Tukaths Zimmer«, sagte Senta. Sie schob die Tür zur Seite und winkte Sorren zu. »Nur Mut, Sorren, geh hinein!«
Sorren trat ein. Der Raum hatte Wandschirme an allen vier Seiten. Als Sorren eintrat, sprang eine weiße Katze, die auf dem Kachelboden geruht hatte, auf und verschwand steifbeinig unter einem Tisch. Der Mann am Tisch blickte auf und lächelte sie an. Er trug den weißen Talar mit der Kapuze, und das Haar darunter leuchtete silbern und schwarz. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stück durchsichtigen Glases, das in merkwürdiger Art gekrümmt war, und es standen da mehrere Gefäße und lagen einige Lappen weicher Wolle. Er blickte zu Senta und bewegte signalisierend die Finger.
»Tukath ist taub«, erklärte Sentas wundervolle Stimme. »Er ist es seit seiner Kindheit. Er kann sprechen, aber weil die Laute, die er hervorbringt, für andere so unschön klingen, zieht er es vor, stumm zu bleiben. Er hat eine Zeichensprache entwickelt, die wir hier im Tanjo beherrschen und anwenden. Mit mir kann er direkt sprechen, weil ich seine Gedanken in meinem Kopf hören kann und er die meinen in seinem, aber für dich werde ich übersetzen müssen. Wenn es dir möglich ist, stelle dir vor, daß er dich hören kann, und sprich zu ihm, als könnte er das wirklich. Ich werde ihm sagen, was du sprichst, und er wird zu mir reden.«
Sorren schaute auf den Tisch und auf das Glas. »Was tust du da?« fragte sie.
Tukath strahlte. Er hob das Glas auf und zeigte ihr, daß es auf beiden Seiten gekrümmt war. Senta sagte leise: »Dieses Glas kann kleine Dinge groß erscheinen lassen. Tukath hat es selbst gefertigt und poliert es nun, damit das Bild so vollkommen wird, wie es nur möglich ist.«
»Was für kleine Dinge?« fragte Sorren.
Der Erfinder nickte ihr zu, sie solle es sich anschauen. Er hielt die Linse über etwas auf dem Tisch. Sorren neigte sich vor. Zunächst konnte sie gar nichts sehen, doch als Tukath die Linse behutsam auf und nieder führte, erschien vor ihrem Auge ein verwischtes Bild, wurde schärfer – sie faßte den Mann am Handgelenk, um ihn anzuhalten, und nun konnte sie das Ding ganz deutlich sehen: es war milchigweiß und hatte eine große gebogene Spitze wie ein monströses Horn. »Was ist das?« fragte sie ehrfurchterfüllt.
Tukath nahm die Linse fort und bedeutete ihr, sie solle hinsehen. Aber sie vermochte nicht einmal zu erkennen, auf was sie gestarrt hatte. Er lachte lautlos und hob etwas auf und hielt es ihr dicht vor die Augen. Es war ein Fetzchen der Haut um eine Katzenkralle.
»Tukath möchte wissen, ob du jemals Steine unter Wasser angeschaut hast und sie dann an die Luft gehoben hast, nur um zu sehen, daß sie kleiner wirkten, als es zuvor den Anschein hatte.«
»Ja, das habe ich.«
»Das Glas hat die gleiche Wirkung. Die Oberfläche des Wassers ist gekrümmt wie das Glas, nur ganz wenig, nur soviel, um das zu verzerren, was wir sehen.«
Rinti sagte: »Das ist ja wundervoll, aber es bringt uns dem nicht näher, was wir wissen müssen. Tukath, hör dir an, was dieses Kind tun kann: Sie sieht zurück! Senta hat erst geglaubt, sie ist eine Fernreisende, aber ich hab' versucht ihr zu folgen und es gelingt mir absolut nicht, es ist, als versuchte ich durch Nebel zu schauen. Darum bin ich sicher, daß sie keine Fernreisende ist, und außerdem benutzt sie kein Koppelglied, sondern sie geht einfach fort. Geh doch mit ihr und prüfe selbst, ob ich recht habe.«
Tukath blickte Sorren an. In seinen Augen stand eine Frage.
»Tukath möchte wissen, ob du zu müde bist, es noch einmal zu versuchen?«
»Ich bin überhaupt nicht müde«, sagte Sorren.
»Da haben wir noch was Neues«, brummte Rinti. »Wieso ist sie nicht müde? Sie müßte doch wenigstens ein bißchen müde sein!«
»Tukath sagt, er ist bereit, sich bei dir einzukoppeln, wann immer du bereit bist zu gehen.«
»Gut«, sagte Sorren. »Soll ich irgendwas in die Hand nehmen?«
»Nein«, sagte Rinti. »Mach es ohne was. Wenn du es ohne kannst, dann reist du nicht in die Ferne.«
Sorren starrte auf die Linse ... Das Gemach verschwand. Sie schwebte über einem Bach. Am Ufer kniete ein kleiner Junge, das Gesichtchen war ganz verkniffen vor Aufmerksamkeit. Er betrachtete etwas. Sorren
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