Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
schwebte tiefer, um zu sehen, was es war. Es war ein Blatt, auf dem ein Wassertropfen lag. Das Kind spähte durch den Tropfen auf das Blatt. Der Junge machte den Mund auf und machte »Aha!« Es war ein triumphierender Laut.
Und dann war sie wieder zurück, und Tukath starrte sie an, und seine Augen waren groß vor fragendem Staunen. Er hob eine Hand, deutete auf die Linse und zeigte dann langsam auf sich selbst.
Sorren begriff. Sie hatte ihn gesehen. Er war der kleine Junge am Bachufer gewesen. An ihrer Seite tanzte Rinti hüpfend von einem Bein auf das andere, so aufgeregt war er. »Bist du ihr gefolgt?« schrie er. Der Seher nickte. Er verzog grinsend das Gesicht. »Siehst du, ich hab' es dir ja gesagt«, erklärte er Senta, »sie ist eine Seherin. Aber sie sieht in die Vergangenheit!«
»Ja, ich glaube, du hast recht«, sagte Senta und legte Sorren die Hand auf die Schulter. »Mein Kind, verstehst du, was dies bedeutet? Du besitzt eine außerordentlich seltene Gabe. Tukath sagt, er hat noch nie von einem Seher gehört, der in die Vergangenheit gehen kann. Du mußt in den Tanjo kommen, wahrhaftig, du mußt! Wir müssen dies verstehen lernen.«
Sorren wurde steif. »Du hast gesagt, daß ich gehen darf.«
Die Wahrheitsfinderin ließ die Hand sinken. »Das habe ich, und du darfst gehen. Aber, Sorren, bedenke doch nur, was du aufgibst, wenn du gehst! O ja, du kannst natürlich auch fortgehen und später wiederkommen, aber bedenke es gut. Der Ort, den du in deinen Träumen gesehen hast, ist noch immer vorhanden – Tornor –, sicherlich, aber er ist bestimmt nicht mehr so, wie du ihn in deinen Visionen erblickt hast. All das ist in der Vergangenheit. Du kannst nicht hingehen.«
Sorren wußte, dies war die Wahrheit. Tukath blickte sie aufmerksam an und nickte, wie um die Worte der Wahrheitsfinderin zu unterstreichen. Sorren überlegte, wer die Leute, die sie geschaut hatte, wohl sein mochten, diese drei Frauen, der einarmige Mann, die vielen anderen, die sie im Laufe der Jahre gesehen hatte ... Sie reckte die Schultern. »Ich will aber immer noch dorthin gehen«, sagte sie. Rinti stöhnte und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
Senta nickte. »Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. »Doch wenn du dich anders entscheidest, Sorren-Vergangenheitsseherin, dann kehre zu uns zurück. Unsere Tür steht dir immer offen.«
Es war wie ein Abschied. Rinti schüttelte unablässig den Kopf und brabbelte leise vor sich hin. »Was ist mit meinen Karten?« fragte Sorren. Sie nahm sie vom Tisch, wo sie sie abgesetzt hatte.
Tukaths lange sensible Finger nahmen sie ihr aus der Hand. Er warf Senta einen um Erklärung bittenden Blick zu. Verständnis strömte zwischen den beiden hin und her. Dann öffnete er das Kästchen und betrachtete sich die Karten. Bei dem Bild des Sternguckers hielt er inne und dann wieder bei der Darstellung des Rades. »Was weißt du über diese Karten?« fragte Senta.
»Sie sind alt«, sagte Sorren. »Und sie kommen aus Tornor Keep. Marti Hok hat Bilder wie die bei ihren Aufzeichnungen. Sie haben meiner Mutter gehört, und sie wußte, wie man sie benutzt, aber ich kann es nicht. Ich möchte es lernen.«
Tukath faltete die Seide wieder über den Karten zusammen und legte sie in das Kästchen zurück. Er schob es ihr über den Tisch hin zu, und sein fahles Faltengesicht blickte auf einmal ganz traurig drein. Senta sprach: »Tukath sagt, die Karten sind tatsächlich Glückskarten, Karten, in denen man die Zukunft lesen kann. Er sagt, er kann spüren, wie sie an seiner Seele zerren. Aber er glaubt nicht, daß sie bei dir funktionieren werden, oder wenn sie es tun, dann werden sie dir niemals die Zukunft sagen können. Für dich werden sie nur die Vergangenheit verkünden.«
Nun schwieg sogar Rinti. In der Stille konnte Sorren den Gesang der Tanjo-Vögel hören, und bestürzend wurde ihr plötzlich bewußt, daß Tukath bei all seiner Macht, dies nicht könnte, ebensowenig wie er Sentas wundervolle Stimme hören konnte oder das Rauschen des Wassers, das nach dem Regen durch die Straßenrinnen schoß, oder den Wind, der durch die Bäume fuhr, oder auch nur seine eigene Katze.
Sie schob ihm die Karten in ihrem Kästchen zu. »Du sollst sie haben«, sagte sie. »Du kannst damit umgehen. Ich nicht.«
Doch der Seher schüttelte den Kopf und schob sie ihr sanft, aber bestimmt wieder zu. »Tukath sagt, sie gehören dir, auch wenn du sie nicht zu benutzen wünschest. Wenn du sie fortgibst, dann müßte dies
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