Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
noch einmal umwandte, um dem Schiff nachzuschauen, war es merklich kleiner geworden. Sie erblickte den Wachtposten, der sie auf den Strand gelassen hatte, und winkte ihm nochmals ein Dankeschön zu.
Die neue Tür der Taverne war mittels eines Steines geöffnet gehalten, und der Schankraum wurde vom Licht der Sonne durchflutet. Sie trat ein. Der Raum war leer. »Hallo!« rief sie. Niemand antwortete. Sie rief erneut, und die Küchentür glitt beiseite. Norres stand vor ihr.
»Ah«, sagte sie, »du bist's. Sie hat gesagt, daß du kommst.«
Ihre Stimme klang trübe, und ihr Gesicht war hager. Sorren fragte sich, ob sie krank sei. »Geht's dir nicht gut?« fragte sie.
Norres überhörte die Frage. Sie deutete hinter sich. »Da, durch die Tür«, sagte sie. »Durch die Küche, im Vorratsraum. Dort ist sie.«
»Wer ist da?« fragte Sorren dümmlich.
»Kadra.«
Sorren blinzelte. »Waas?«
»Geh und schau selber nach!« sagte Norres. Langsam schritt Sorren an ihr vorbei in die Küche. Ein Mädchen, das den Herd schrubbte, blickte nicht einmal auf, als sie vorüberging. Es roch nach Fett und Fisch in der Küche. Von den Dachsparren hingen getrocknete Kräuterbüschel. Sorren blickte sich nach einem Vorratsraum um und sah im hinteren Teil der Küche eine halboffene Tür. Sie trat dorthin, stieß die Tür ganz auf und kam in ein düsteres und dumpfiges Gelaß.
Sie dachte, das muß die Vorratskammer sein. Es gab Borde mit Dosen und auf dem Boden hohe Krüge. Durch ein netzbespanntes Fenster fiel Licht, und sie sah eine Pritsche, etwas über den Boden erhoben, und auf dem Strohsack eine menschliche Gestalt, die mit einem Laken bedeckt war. Sie trat näher. Das Gesicht war nackt. Es war Kadra.
»Aber ... sie wollte doch mit dem Schiff ...«, flüsterte Sorren.
»Die da hätte nie mit dem Schiff mitfahren können«, sagte Norres im Türrahmen. »Du hast doch auch ihren Husten gehört. Das Saufen und die Raufereien und das Schlafen unterwegs und auf den Straßen und am Strand haben die da umgebracht, genau wie es ihr bestimmt war. Ich hab' ihr immer gesagt: Komm und schlaf in der Taverne! Aber – ›Nein!‹ Komm und schlaf bei mir im Haus! – ›Nein!‹ Und so habe ich mir angewöhnt, sie nicht mehr zu bitten. Das Schiff – dieses Schiff war nichts als ein Traum, Mädchen. Vielleicht hast du dran geglaubt. Die da hat nie daran geglaubt. Hier nimm!« Sie trat an die Borde. »Das Zeug da ist für dich. Die da hat gesagt, ich muß dafür sorgen, daß du es bekommst.«
Sorren flüsterte: »Wann ist sie gestorben?«
»Heut früh, vor dem Morgengrauen. Und jetzt beeil dich und nimm Abschied! Ich werd' ihr das Grab graben, wenn du weg bist.« Sie verschwand abrupt. Sorren trat dichter an das Lager. Kadra sah friedvoll aus. Sorren fragte sich, wo Norres sie beerdigen würde. Man war verpflichtet, eine Amtsperson zu informieren, wenn jemand starb, damit jemand kommen und den Leichnam untersuchen konnte und damit sie sicherstellten, daß diese Person nicht an der Pest gestorben war.
»Ich hab' geglaubt ...« Sorren brach ab und schluckte. Warum redete sie zu der Toten? Sie schaute in das Gesicht des Leichnams hinab. Die Haut verlor schon die Feuchtigkeit und begann straffer über den Knochen zu sitzen, und es roch eigenartig im Raum. Sorren streckte die Hand aus und berührte mit den Fingern behutsam die gelblichen Lippen. Das Tuch lag lose über dem Körper. Und es war jetzt nur noch ein toter Körper, die Seele war aus ihm gewichen und wanderte, wohin immer Seelen gehen mochten. Bald würden die Leichenwickler kommen und den Leib in grobe Leinenstreifen binden und ihn in die Erde senken. Sorrens Hand glitt zu dem Tuch. Sollte sie es zurückschlagen? Es war keiner da, der sie dabei beobachten konnte. Die lebende Kadra hatte sie nie nackt gesehen. Und sie würde nie wieder die Gelegenheit bekommen herauszufinden, was aus einem Menschen ein ghya machte.
Und während sie noch so dastand, liefen ihr die Augen über, und die Tränen rollten. Sie hob die Hand. »Ach, verdammt!« schluchzte sie. Die Lehmmauern saugten ihren Ruf auf und warfen noch nicht einmal ein Echo zurück. »Warum? Warum denn?« Die tote Ghya stach mit dem Kinn nach ihr. Ein um das Gesicht gebundener Faden hielt die Kinnlade geschlossen. Sie konnte jetzt im Tod nicht mehr sagen, was zu verschweigen sie im Leben entschlossen gewesen war. Sorren hob die Hand und rieb sich die Augen, bis sie wehtaten. »Flieg mit dem Segelschiff!« sagte sie zu der Toten.
Weitere Kostenlose Bücher