Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
die Wunde sich entzündet hatte.
Durch ihr Fenster konnte sie den lavendelblauen Himmel sehen – er war orange gemasert wie eine Sommerrose. Der Mond stieg mit nur einem verdunkelten Streifen leuchtend aus dem Meer auf. »Wie steht's mit ihm?« fragte Paxe. »Hast du ihn gesehen?«
»Du meinst den Gefangenen? Es geht ihm gut. Seine Frau hat ihm etwas Gold gebracht, und Arré Med hat gesagt, wir sollen es ihn behalten lassen.«
»Sind die Proklamationen ausgehängt?«
Kaleb schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Paxe trat zu dem Waschbecken und spritzte sich das lauwarme Wasser ins Gesicht. Dann suchte sie in ihrer Truhe nach einem Hemd ohne Rangabzeichen. »Weiß der Hauptmann am Stadttor Bescheid, daß wir kommen?«
»Ja. Es wird keine Fragerei geben.« Kaleb war nervös; Paxe konnte es an der Ruhelosigkeit erkennen, mit der er seine Hände bewegte.
Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte sie zu seinem Rücken: »Was ist los mit dir?«
Er warf ihr einen dunklen Blick zu, ohne auf der Stufe zu stolpern. »Ich verstehe nicht, warum wir das machen«, sagte er.
»Was machen?«
»Ihn am Leben lassen«, sagte der Asech. »Wenn ich die Entscheidung zu treffen hätte ...«
»Aber du hast nicht!« sagte Paxe. »Und auch ich nicht. Es ist Arré Meds Entscheidung.«
Sie verstand nur zu gut, wie Kaleb Isak gegenüber fühlte. Die Stämme der Asech waren in Familienverbänden organisiert, und ein solcher Verrat, wie Isak ihn sich geleistet hatte, einer leiblichen Schwester gegenüber, konnte nach dem Gesetz der Wüste nur auf eine einzige Art und Weise geahndet werden. Paxe erinnerte sich an Isaks glattes, gespieltes Entsetzen, als sie ihn im Morgengrauen aus dem Schlaf geweckt hatte, und ein Teil von ihr wünschte sich gleichfalls für ihn den Tod. Aber Töten war nicht der rechte Weg. Sie stellte sich vor, wie Jerrin-no-Dovria i Elath das mit seiner klingenden beschwörenden Stimme sagte. Als sie ihm zuhörte, wie er die »Anrufung des Wächters« beim Fest zelebrierte, hatte sie Sorge und eine stechende Verachtung verspürt. Was geschieht, fragte sie sich jetzt, nach dem Tod des Körpers mit der Seele eines, der das Chea verhöhnt?
Sie ging an der Truhe vorbei und blieb stehen. Neben dem Kasten lag ein graues Stoffbündel und ein Lederfutteral. Sie kniete nieder und zog die Klappe des Futterals auf. Es lagen ein entspannter Bogen und eine Handvoll Pfeile darin.
»Übst du dich jetzt in der Kunst des Bogenschießens?« fragte Kaleb.
Sie verschloß das Futteral wieder und stand auf. »Nein.«
Sie stiegen den Hügel zur Wache hinab. Die Wache am Gefängnis nahm Habachtstellung ein, als sie sie erblickte. »Hofmeisterin! Kommandant.«
»Was macht dein Gefangener?« fragte Paxe und nahm der Frau die Zellenschlüssel aus der Hand.
»Sehr still. Seine Frau war da, aber sie ist schon wieder gegangen.«
Paxe steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Es gab ein knarrendes Geräusch, die Tür ging auf, und der Geruch von schalem alten Wein, von Kot und Erbrochenem drang hervor.
Paxe hatte Isak absichtlich in einer der kleinen Zellen unterbringen lassen, wie es sie bei jeder Postenstelle gab. Die Gebäude waren nichts weiter als einfache Ziegelschuppen. Sie waren nicht auf Bequemlichkeit hin errichtet worden, und es gab kein Wasser und kein Licht. Statt eines Nachttopfes gab es nur ein Loch im bloßen Erdboden. Und als Bett diente Stroh und eine rauhe Decke.
»Raus!« sagte Paxe.
Isak kam blinzelnd heraus. Sein Gesicht wirkte verkniffen und müde. Paxe fragte sich, ob er geruht habe.
»Guten Abend, Hofmeisterin«, sagte er.
Die Stimme klang flach, alle Keckheit, aller Übermut waren aus ihr gewichen. Paxe warf dem Posten den Schlüssel zu, die Soldatin verschloß die Tür. »Gib ihm sein Geld!« sagte sie.
Kaleb zog eine kleine Börse aus dem Gürtel. Aus der Art, wie er damit umging, sah Paxe, daß sie schwer war. Isak hob beide Hände, um sie entgegenzunehmen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, denn die Arme waren ihm durch einen losen Strick an den Ellbogen und durch eine enge Schnur um beide Handgelenke gefesselt.
»Ich danke dir«, sagte er. Er blickte auf seine Hände. »Könnte man mich nun freilassen?«
»Am Stadttor«, sagte Paxe.
Sie warf Kaleb einen Blick zu, weil sie erwartete, daß er nun wegtreten würde. Er rührte sich nicht. »Kommandant«, sagte sie, »ich will dich nicht von deinen Pflichten abhalten.«
Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich komme mit dir mit.«
Paxe reckte
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