Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Herrin: eine goldenhaarige Frau, die im Freien steht. Sie lächelt. Was soll das?«
Sorren sagte: »Das sind die Karten.«
»Wovon sprichst du, Kind?«
Sorren nahm das Papier. »Die Lady. Der Träumer. Das da ist der Tänzer.«
»So laß mich doch sehen ...« Sie beugten beide den Kopf über das Blatt. »Ja. Aber du kannst doch gar nicht lesen, Kind, wieso kennst du die Namen?«
»Meine Mutter hat sie mir gegeben. Es sind insgesamt zweiundzwanzig. Sie sind so groß ...« Sie zeichnete mit den Händen ein Rechteck in die Luft, um die Größe anzugeben. »Und es sind Bilder darauf wie die hier, nur sind sie farbig, und es ist mehr auf den Bildern. Die Herrin zum Beispiel hat einen Hund neben sich.«
Marti zählte nach. »Hier sind acht Karten abgebildet. So hast du sie doch genannt? Karten? Aber wo sind die anderen?« Sie zog den Faltband über den Tisch zu sich herüber. »Die müssen doch da sein.«
Sie öffnete den Band und hob die Blätter von einem Stapel in einen neuen heraus. Sorren stieß auf ein zweites Blatt Papier. »Hier sind weitere acht«, sagte sie. Marti hob weiter die Blätter aus dem Band, und ein drittes Blatt fand sich. »Das ist der Rest.« Sorren erkannte die Zeichnungen, so verzwickt und fremdartig sie auch wirkten. »Der Turm, das Rad, der Dämon, der Alte Knochige, die Mondfrau, das Dorf.«
»Laß mich sehen!« Marti spähte nach den Bilderzeichnungen. »Sie haben Namen, Kind. Das da, das du den Alten Knochigen nennst, das ist der Tod. Was du die Mondfrau nennst, heißt der Mond, und was du das Dorf nennst, ist die Sonne.«
Sorren sagte: »Meine Mutter hat mich nie gelehrt, sie zu benennen.«
Marti lehnte sich in ihren Sessel zurück. Ihre sanftbraunen Wangen waren dunkler geworden. »Weißt du eigentlich, was da in deinem Besitz ist?« fragte sie. »Diesem Papier zufolge«, sie pochte mit dem Finger darauf, »kann einer, der darin ausgebildet ist, die Zukunft aus deinen Karten lesen. Du sagst, deine Mutter hat sie dir hinterlassen?«
»Ja.«
»Ich frage mich ...« Marti lachte. »Ja, es muß einfach so sein.«
»Was muß so sein?«
Marti berührte wieder das Papier. »Diese Karten waren einst in der Obhut des Herrscherhauses von Tornor.«
Sorren schluckte. Sie starrte erneut auf die Zeichnungen. »Das kann nicht sein«, sagte sie. »Meine Karten sind jünger als diese Zeichnungen da.«
»Hmm«, machte Marti. Sie runzelte die Stirn. »Haben deine Karten auf der Rückseite ein Muster?«
»Nein.«
»Aha. Hier steht, das Muster auf der Rückseite der Karten war ein roter Stern auf weißem Feld. Und das Wappen von Tornor ist ein achtzackiger roter Stern auf weißem Grund. Du mußt eine Kopie des Originalkartenspiels haben.« Ihr Gesicht kräuselte sich in zahllose Fältchen vor Vergnügen. »Ich möchte wissen, wie deine Familie dazu gekommen ist. Konnte deine Mutter damit umgehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sorren. »Sie ist gestorben.«
»Vielleicht konnte sie es«, sagte Marti. »Und vielleicht trägst du deinen Namen mit Recht. Vielleicht gehörte deine Familie, die Linie deiner Mutter, vor unzähligen Jahren zum Herrscherhaus auf Tornor.«
Sorren blinzelte heftig. Sie wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen. »Meine Familie?«
»Ja. Gewiß doch. Solche Dinge gibt man nicht fort.« Marti lachte. »Soll ich dir noch was sagen? Das Herrscherhaus von Tornor wurde begründet von einem rebellischen Sproß des Med-Hauses. Du könntest also eine entfernte, eine sehr, sehr entfernte Verwandte von Arré Med sein!«
Sorren hätte sich am liebsten in den Arm gekniffen, um sicher zu sein, daß sie nicht träumte. Sie war also wirklich eine Nordländerin, zwar im Süden geboren, aber das Blut des Nordens rollte durch ihre Adern. Sie war sogar ... doch nein. Sie gebot sich selbst Einhalt. Sie war keine Prinzessin. Sie war eine Leibeigene, deren Ur-ur-ur-vielmals-urgroßmutter möglicherweise die jüngere Tochter in einem Adelshaus gewesen sein mochte. »Ich wollte, ich wüßte es genau«, sagte sie.
Marti Hoks Gesicht verdüsterte sich. »Laß dich durch mich nicht durcheinanderbringen«, sagte sie sanft. »Es ist doch nur ein phantastisches Spiel, mein Kind.«
Aus dem Flur rief eine Stimme: »Mutter!?« Eine Frau schob den Kopf durch die Tür. Sie war sehr jung und hochschwanger. »Was um Himmels willen treibst du denn hier?« fragte sie.
»Was kümmert das dich?« sagte Marti barsch. »Ich bin beschäftigt. Gibt es was Wichtiges? Wenn nicht, dann verschwinde und laß uns
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