Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
»Ich hab' sie für dich gemacht.« Sorren hielt die Luft an, Kadra beugte sich so dicht zu ihr hin. »Das da ist Kendra-im-Delta.« Kadra deutete auf einen Kreis im unteren Teil der Zeichnung. »Ich habe die ›K‹-Rune hingeschrieben, das ist das gleiche Zeichen wie auf den bontas, schau die an deiner Geldschnur an, dann erkennst du es.« Ihr Finger wanderte die Karte hinauf. »Die Linie da ist der Fluß. Das ist der Aruna-See. Hier liegt Tezera und das Fischsymbol daneben.« Sie zeigte auf jeden Ort, während sie ihn nannte. Die unbeholfenen Linien sahen aus wie eine Kinderzeichnung.
Im oberen Teil der Karte waren kleine Höcker eingetragen. Sorren zeigte darauf. »Was bedeutet das?«
»Berge«, sagte Kadra. »Die Grauen Berge, wo die Grenzfesten liegen.«
Berge! dachte Sorren. Ihre Finger bogen sich zu Krallen, während sie sich tiefer über die Karte beugte. Sie stellte sich vor, sie sei ein Vogel, fliege über das Land Arun, so wie sie in ihren Träumen über die Steppe flog. Aus dieser Karte konnte sie alle Straßen erfahren, jede Wegbiegung, jede Schlaufe des Flusses. Sie fuhr die Linie nach, die aus dem Norden floß. »Und wie reise ich dorthin?« fragte sie.
Die Ghya zerrte einen Strohhalm aus dem Stalldach. Vorsichtig setzte sie ihn auf die Karte. »Hier ist die Stadt, in der wir uns befinden. Um zu den Grenzfesten zu gelangen, muß man nach Tezera reiten und sich dann nach Nordosten wenden, nach Zilia Keep, oder nach Nordwesten, wenn man zu den übrigen Burgen gelangen will. Hast du dich schon entschieden, zu welcher du reisen willst?«
»Tornor«, sagte Sorren.
»Das liegt hier.« Kadra fuhr mit dem Strohhalm über das Papier. »Die Straße führt am Fluß entlang nach Norden. Der Fluß heißt der Rurian. Wann wirst du gehen? Ich werde dir die Route auszeichnen, und dir die Dorfnamen angeben.«
»Im nächsten Sommer«, antwortete Sorren.
»Der Herbst wäre besser«, sagte die Ghya. »Es ist anstrengend, im Sommer durchs Galbareth zu reisen. Die Hitze saugt einem das Leben aus dem Leib. Im Herbst ist die Luft kühler, und die Straßen sind weniger staubig. Dann gibt es nur ein Problem: in den Norden zu kommen, bevor es zu regnen beginnt.«
»Warum? Was passiert dann?« fragte Sorren.
»Die Steppe, die Straßen, alles verwandelt sich in Schlamm. Die Pferde verabscheuen das.«
Sorren hatte nicht über Pferde nachgedacht. »Ich kann nicht reiten.«
»Dann wirst du zu Fuß gehen müssen«, sagte Kadra, »und du wirst so noch viel länger brauchen. Wenn du ein bißchen Geld hast, findest du vielleicht einen Händler, der dich in seinem Wagen mitfahren läßt, wenigstens bis Tezera.«
Sorren schluckte. Kadras Worte bauten unerfreuliche Bilder vor ihr auf: hitzeerfüllte, schlammige Straßen, fremde Leute, die vielleicht keine freundlichen Absichten hegten. »Wie lange werde ich brauchen?«
»Den ganzen Weg zu Fuß? Zwei Monate, mindestens. Wenn du mit einem Karawanenzug bis Tezera fährst, dann weniger. Sagen wir, zwei Wochen bis Tezera, und dann nochmal zehn Tage von dort bis Tornor Keep. Das heißt, du würdest so lange brauchen. Ein Bote könnte es in viel kürzerer Zeit schaffen, selbst zu Fuß.«
Das war eine lange Fahrt. Sorren biß sich auf die Lippen.
»Na, überlegst du's dir doch noch?« fragte Kadra.
Sorren hätte gern »nein« gesagt, »nein, natürlich nicht«. Doch es war töricht vorzutäuschen, daß man stärker sei, als man war. »Ja, ich denke nach.«
»Gut«, sagte die Ghya. »Das solltest du bestimmt.« Und geschickt rollte sie die Karte zusammen und schnürte sie zu.
»Aber ich möchte noch immer gehen«, sagte Sorren.
»Willst du das?« Kadras Stimme nahm wieder jenen seltsamen flachen Ton an. »Dann solltest du aber daran denken, dir sowas zuzulegen.« Sie griff unter ihren Umhang und zog mit einer raschen Bewegung, die Sorren zurückfahren ließ, ein Messer hervor.
Die Messer hatte man nicht völlig aus den Stadtmauern verbannen können; sie waren zu vielfältig nützlich. Also hatte der Rat der Häuser Statuten aufgestellt, in denen klar und genau festgelegt war, wie lang und wie breit Messer sein durften, und wer sie bei welchen Gelegenheiten, an welchen Orten tragen durfte. Botschafter durften innerhalb der Stadtmauern Messer tragen, doch mußten sie von den erlaubten Maßen sein. Kadras Messer war klein und sehr dünn. »Es hat nur eine Schneide«, sagte die Ghya. Sie zeigte Sorren das Heft, das aus Metall mit Beinintarsien war. Die Klinge war gekrümmt, und
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