Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
eine Spur größer als Arré selbst.
»Es ist eine große Freude, dich wiederzusehen, Arré Med«, sagte er. Die Stimme war angenehm. »Bitte setz dich!« Er wies auf das Ende der Steinbank.
Arré ließ sich nieder. »Danke, L'hel«, sagte sie. Mit rauschenden Gewändern setzte sich Jerrin ihr gegenüber. Die schwarzhaarige Frau sank graziös wie eine Akrobatin zu seinen Füßen nieder und faltete die Hände im Schoß. Ihre Kleider wirkten blendend weiß vor dem Grün.
»Ich habe befohlen, daß meine Wachen mich in einer Stunde wieder abholen«, sagte Arré.
»Ich bin sicher, wir haben unser Geschäft in dieser Zeit erledigt«, sagte Jerrin. »Darf ich dir eine Erfrischung anbieten? Wein? Wasser? Tee?«
»Wein«, sagte sie. Sie erwartete, daß er eine Dienerin rufen würde. Statt dessen blickte er nur kurz zu dem roten Steinbau hinüber. Arré hörte das Geräusch eines Paravents, der in seinen Schienen beiseiteglitt. Ein Krug aus blauem Kristall und drei blaue Gläser schwebten von dem Gebäude heran wie von unsichtbaren Händen getragen, glitten über den sonnendurchfluteten Hof und kamen vor den Füßen des L'hel zur Ruhe. Senta nahm den Krug und schenkte Wein in die Becher. Sie reichte einen dem L'hel, den zweiten Arré.
Arré nahm das Gefäß fest in beide Hände. »Ich wußte nicht, daß du das kannst«, sagte sie.
»Meine Gabe ist Körperheben«, sagte Jerrin. »Und da ich es für das beste hielt, wenn wir ganz privat miteinander sprechen, habe ich schon vorher Wein bereitstellen lassen.«
»Kannst du heben, was immer du willst?« fragte Arré. Der Weinbecher war leicht.
»Schwere Dinge sind komplizierter«, sagte er. »Ich könnte zum Beispiel die Bank hier nicht heben. Aber ich könnte es vielleicht fertigbringen, dich von ihr aufzuheben.«
Es gelang Arré, sich davor zurückzuhalten, daß sie nach dem Rand des Sitzes griff. »Du brauchst es mir nicht zu beweisen«, sagte sie.
Er lachte. »Ich werde es nicht tun. Alle in diesen Mauern haben Demonstrationen derartiger Kräfte erlebt – um so erfrischender ist es, mit jemandem reden zu können, für den sie noch immer eindrucksvoll sind.« Seine Stimme wurde gespielt selbstmißbilligend: »Ich habe mich produziert, fürchte ich.«
Arré lächelte und nippte an ihrem Wein. Er schmeckte sehr blumig. Sie sagte es laut.
»Aus den Weingärten der Med«, sagte Jerrin.
Sie nickte ihm ihre Billigung zu. Sie hatte den Wein erkannt, es war kein billiger Jahrgang. Ebensowenig waren die Becher und der Krug billige Ware, und auch nicht die Seidenstoffe, die die Hexer trugen, nicht das Gold an Jerrins Finger, und nicht die blauen und silbernen Fliesen, die auf dem Tanjoboden solch wunderschöne Muster bildeten. Der Weiße Clan bezahlte dies zum Teil mit dem Geld, das ihm von der Stadt gegeben wurde und das einen gewissen Prozentsatz der Stadtsteuer betrug. Die übrigen Gelder stammten aus anderen Quellen: vom Blauen Clan, den Handwerkergilden, und selbstredend von den dankbaren Bewohnern des Landes Arun.
Sie strich glättend über ihre Seidenrobe. Die Berührung des leichten feinen Stoffes vermittelte ihr ein Gefühl der Lust und Sicherheit. Sie hatte an diesem Morgen beim Ankleiden ihre Armbänder fortgelassen, weil sie geargwöhnt hatte, der L'hel könne sie für frivol halten. Jetzt vermißte sie sie. Sie hätte gern gewußt, wer Senta-no-Jorith war und wieso sie an dieser Unterredung teilnahm. Sie entschloß sich, mit einem Umweg die Diskussion in Gang zu bringen.
»Die Ernte wird in diesem Jahr hervorragend sein, berichteten mir meine Verwalter. L'hel, es wäre eine Schande, wenn das Erntefest durch die Gegenwart scharfer Waffen verdorben würde.«
»Bitte nenne mich Jerrin«, bat der Mann. »Titel klingen so formell und steif, und wir beide sind einander ja nicht fremd, also brauchen wir auch nicht formell zu sein. Du hast recht, es wäre furchtbar und es wäre schändlich. Wir können nur hoffen, daß es nicht geschehen wird. Der Wächter hat uns in diesem Jahr reich gesegnet, die Ernte ist in der Tat überreich, und beim Fest werden sich zweifellos Unzählige in die Stadt drängen. Ich beabsichtige, es in eigener Person mit der Großen Anrufung zu eröffnen. Ich weiß, der Blaue Clan und die Gilden haben die gewohnten Unterhaltungen vorbereitet, um das Volk zu ergötzen. Ich wurde unterrichtet, daß dein Bruder tanzen wird ...«
Arré spannte sich. »Mein Bruder tanzt in jedem Jahr.«
»Und er ist sehr gut darin«, sagte der L'hel.
Selbst Arré
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