Die Chroniken der Nebelkriege 3: Die Letzte Flamme
ihnen wie ein Vorhang zurück und machten einem majestätischen Sternenhimmel Platz.
Du erinnerst dich, was ich dir über die Quelle des Unendlichen Lichts und Murgurak den Raben gelehrt habe?
»Ja.« Kai nickte. »Nur weiß ich nicht, warum?«
Der schwarze Sternenhimmel vor ihnen zerfloss und Kai sah Murgurak inmitten eines majestätischen Gebirgspanoramas. War das das Albtraumgebirge ? Der Hexenmeister war in ein tiefschwarzes Gewand gekleidet und hielt seinen Rabenstab sowie ein dickes Buch in den Händen, bei dem es sich ohne Zweifel um das Liber nocturnus, das Buch der Nacht, handelte.
Der Fokus verschob sich, und Kai entdeckte, dass Murgurak auf einem abgeflachten Berggipfel stand, in dessen Gestein ein großes, dreizehnzackiges Tridekagramm aus Mondsilber eingelassen war. Der Berggipfel war vom Blut zahlreicher Tier- und Menschenopfer besudelt, deren ausgeblutete Leiber von gesichtslosen schwarzen Schemen gehalten wurden. Murgurak summte einen unhörbaren Zaubergesang. Die Wolken am Himmel über ihm zogen sich zu schwefelgelben Gebilden zusammen, heftige Böen hoben das lange weiße Haar des Hexenmeisters an und jäh zerriss ein Blitz das Firmament, der so grell war, dass Kai seine Augen abschirmen musste. Ungläubig verfolgte er mit, wie der Bergzug, auf dem Murgurak stand, der Länge nach auseinanderbrach. Die Flanken des Berges schoben sich rund um Murgurak auseinander. Massen an Geröll rutschten von den Höhenzügen, und immerzu brachen von den zerrissenen Bergwänden weitere Felsen ab, die lawinenartig in die Tiefe stürzten. Bei allen Moorgeistern! Kai wurde klar, dass er hier nichts Geringeres als die Entstehung der Schattenklüfte miterlebte.
Murgurak stand noch immer inmitten des mondsilbernen Tridekagramms und beobachtete kühl sein Werk. Der einstige Berggipfel besaß jetzt die Gestalt eines irrwitzig lang gezogenen Totenschädels, der wie ein giftiger Dorn aufragte. Der Hexenmeister riss den Zauberstab nach vorn, und aus einem bodenlosen Schacht zu seinen Füßen quoll ein wirbelnder Strom dämonischer Heuschrecken, die sich über ihm zu einem monströsen Schwärm sammelten. Das schreckliche Gebilde wogte am Himmel hin und her und verschluckte auch das letzte Licht, das an den geschändeten Ort fiel. Murgurak wies mit seinem Rabenstab nach Norden, brüllte etwas gegen den Sturm an, und die unheimliche Heuschreckenwolke jagte wie ein schwarzer Pfeil davon. Die Bilder zerflossen und machten wieder dem Sternenhimmel Platz.
»War das eben das erste der neun Ungeheuer, das Murgurak heraufbeschwor?« Kai starrte das Einhorn schockiert an.
Lucusta, der Schwärm der Nacht!, sprach der weiße Hengst und stampfte mit den Hufen. Es hat die Helden der damaligen Zeit große Anstrengungen gekostet, Lucusta und die anderen acht Ungeheuer zu bannen. Noch nie befand sich die Welt so nah am Abgrund. Doch wo Finsternis ist, ist stets auch Licht.
Vor ihnen erschien das Bild eines schwarzhaarigen Ritters in zerbeulter Rüstung, der auf einer hell erleuchteten Waldwiese kniete und ehrfürchtig das Haupt vor einem Einhorn gebeugt hielt. Die Hände des Ritters ruhten auf einem Schild, der einen Drachen im Wappen führte. Aus einer Schwertscheide auf seinem Rücken ragte der Griff eines kunstvollen Langschwertes. Parierstange und Knauf liefen in taubeneigroßen Echsenköpfen aus, deren Augen mit funkelnden Smaragden verziert waren. Es handelte sich um die Drachentöter-klinge Sonnenfeuer. Kai trat staunend einen Schritt vor. Er ahnte, wen ihm das Einhorn diesmal zeigte.
»Sigur Drachenherz!« Ergriffen besah er sich nun auch das fremde Einhorn, vor dem Drachenherz kniete. Es glich seinem eigenen Begleiter bis in die Schweifspitzen. »Dann habt Ihr also auch ihn damals zu Euch gerufen. Meine Güte. Dann seid Ihr so etwas wie die Verkörperung des Unendlichen Lichts?«
Das Einhorn schnaubte belustigt. Nein, das bin ich nicht. Ich bin nur ein Bote. An mir war es nur, Drachenherz auf seine Aufgabe vorzubereiten. Die Mächte der Schatten sind nicht die einzigen Kräfte, die um die Welt ringen. Wo die Schatten versuchen, das Leben zu zerstören, wirkt das Unendliche Licht aus dem Leben heraus. Um die Schöpfung zu beschützen, erwählte das Unendliche Licht daher einen Sterblichen als seinen Paladin und sandte ihn aus, um den bedrängten Völkern beizustehen. Die Elfen bezeichnen solche Erwählten als Glynmeithyr, als Hüter des Lichts. Doch die Feen, die älter als alle anderen sind, gaben ihnen einen anderen Namen.
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