Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Sandes waren so vielfältig, dass es unmöglich gewesen wäre, sie einzufangen. Fahlgelb war er früh am Morgen, wurde dann mit dem Stand der Sonne heller, bis er mittags eine fast weiße Färbung erreichte, und ging am Nachmittag in warmes Weizengelb über. Immer jedoch glomm das Silberlicht in den feinen Körnern und verlieh den Dünen den Anschein der Unwirklichkeit. Die Konturen waren am Morgen scharf und klar, in der Hitze der Mittagszeit flimmerte die Luft, die Umrisse verschwammen, Karawanen, die sich näherten, schienen plötzlich über den Boden zu schweben, kleine Dinge wurden durch die Entfernung größer, niedrige Sandhügel wuchsen zu Bergen, und riesige Wasserflächen tauchten in der Ferne auf, die berühmten Fata Morganas. Nando nahm alles auf wie ein Kind, das in ein ganz und gar phantastisches Land geraten war, und oft fragte er sich angesichts der vorbeiziehenden Wanderer, wohin ihr Weg sie wohl führen mochte. Die Wüste schien kein Ende zu haben und keinen Anfang, und mit jeder erklommenen Düne entwickelte er eine klarere Vorstellung davon, was das Wort Unendlichkeit bedeutete.
Am Morgen des dreizehnten Tages tauchten rötliche Felsformationen in der Ferne auf. Nando versuchte, die Entfernung abzuschätzen, aber es gelang ihm nicht. Erst am späten Nachmittag waren sie weit genug herangekommen, um zu erkennen, dass es die verschwommenen Umrisse einer verfallenen Burganlage waren, die sich auf einem gezackten Hügelkamm erhoben. Die Karawane hielt an, Mochanon besprach sich mit seinen Lakaien und ritt dann gemeinsam mit Hadros davon, während die anderen ihren Weg fortsetzten. Oft hatte der Engelskrieger mit seinem einstigen Schüler Ausritte dieser Art unternommen, und häufig hatten sie süßes Wasser und seltsame Früchte mitgebracht und von verborgenen Oasen erzählt, die nur die besten Wüstenläufer je betreten hatten.
Nando trieb sein Reittier voran. Der Ritt war lang und anstrengend gewesen, ein Sturm hatte ihnen zwischenzeitlich den Sand entgegengeschlagen, und nun war der Boden weich durch die Wärme und Trockenheit des Tages und ließ jeden Schritt mühsam werden. Erst als sie den Kamm fast erreicht hatten, wurde der Grund hart und rissig wie der Boden eines ausgetrockneten Meeres. Feiner Staub flog über die Ebene und erschwerte das Sehen in der einbrechenden Dunkelheit, und umso mehr freute Nando sich auf die Rast, die zwischen den Mauern der Ruine sicher angenehmer ausfallen würde als auf freiem Feld.
Als er den Burgplatz betrat, brannten bereits die Fackeln und warfen ihren flackernden Schein auf die einstige Festung, die sich halb zerstört in die Nacht erhob wie ein riesiges kariöses Gebiss. Die Wüstenläufer und Amazonen bereiteten duftendes Brot zu, die Musiker stimmten ihre Instrumente. Nando führte sein Tier an den Rand des Platzes und ließ sich neben Noemi an einem grünen Feuer nieder. Sie rührte in einer Tasse Tee und schaute vielsagend zu Avartos hinüber, der in diesem Moment durch den zerbrochenen Burgwall ritt. Mit finsterer Miene legte er sein Gepäck zu ihnen ans Feuer und verließ sie, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Raschen Schrittes überquerte er den Platz und verschwand in der einbrechenden Dämmerung. Nando zuckte mit den Schultern. Avartos verhielt sich seit Tagen nach demselben Muster: Kaum hatten sie ein Lager aufgeschlagen, verließ er es und kehrte erst mitten in der Nacht zurück. Er war schweigsam, auf Nachfragen, was er allein in der Wüste tat, erhielt weder Noemi noch er selbst eine Antwort, und auch Kaya zog es inzwischen vor, den Engel in Ruhe zu lassen. Wiederholt hatte Nando versucht, sich die Lande der Farben vorzustellen, in denen Avartos seine Kindheit verbracht hatte, aber angesichts der silbernen Weite der Wüste blieben die Bilder vage und unwirklich. Vermutlich war es für den Engel nicht leicht, diesen Ort zu bereisen, der seine einstige Heimat verschlungen hatte, von den anstrengenden Ritten einmal ganz abgesehen. Nando spürte die Erschöpfung deutlich in seinen Gliedern, und sogar Kaya streckte sich in der Wärme des Feuers und gähnte ausgiebig.
»Seid ihr etwa müde?«, fragte ein Engel namens Urok und trat zu ihnen ans Feuer. »Dabei hat die Nacht doch noch nicht einmal begonnen.«
Kaya verzog das Gesicht. »Die Stimmen des Windes können selbst für eine Dschinniya wie mich ermüdend sein«, gab sie zurück. »Vor allem dann, wenn sie mit brennenden Sandkörnern daherkommen und mir das Fell versengen.«
Urok lachte und
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