Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
hören, auch wenn sie sie nicht aussprach. Sie erzählten nicht nur von Hadros, dem Engelskrieger. Sie erzählten auch von Avartos, der einen tödlichen Fluchzauber mit seinem Körper abfing, um sie zu retten, und die Kälte, die sich zwischen ihnen errichtet hatte, schmolz in ihren Augen. »Es ist mehr in dem Licht der Engel, als ich jemals für möglich gehalten hätte«, sagte sie. »Und es ist nicht der Zorn, der die Dunkelheit überwindet. Das habe ich durch dich gelernt.«
Sie hob die Zange erneut, aber als sie die übrigen Dornen entfernte, spürte Avartos es kaum. Er sah sie nur an, ihr Haar, das samten über ihren Rücken fiel, und diesen Ausdruck in ihren Augen, der vom ersten Moment an jede seiner Masken durchbrochen hatte. Schließlich legte sie das Instrument fort und betrachtete ihn. »Und was ist mit dir? Wirst du die Schatten für den Rest deines Lebens fürchten?«
Avartos lächelte ein wenig, und als er die Augen schloss und das Rauschen der Wellen hörte, da stand er mit Noemi an seiner Seite in der Wüste am Ufer des Meeres, das vor so langer Zeit versiegt war und doch niemals ganz verschwinden würde.
»Früher bin ich oft an diesem Ort gewesen«, sagte er leise. »Meine Mutter hat das Meer geliebt in all seiner Wildheit und Leidenschaft, und als sie uns genommen wurde, erlosch es in derselben Nacht wie eine Flamme.«
Er wandte den Blick. Der Schnee verfing sich in Noemis Haaren, er sah es so deutlich, als würden sie wirklich in der Ödnis stehen, von weißen Flocken umtost, und nun gemeinsam zu dem Grab treten, bei dem er seit ewiger Zeit nicht mehr gewesen war. Er ging in die Knie und spürte die gefrorene Erde unter seinen Fingern, aber er hörte auch das Lachen seiner Mutter, das ihm zärtlich durchs Haar strich, und als eine Träne über seine Wange lief, schämte er sich ihrer nicht.
»Vestoryen«, sagte er und erinnerte sich daran, dass seine Mutter ihm das gesagt hatte, jedes Mal wenn er heimlich geweint hatte.
»Lebendig«, flüsterte Noemi.
»Meine Mutter floh nie vor der Dunkelheit«, fuhr er fort. »Doch nach ihrem Tod verschrieb ich mich der Rache und der Furcht. Und ich erstarrte in der Lehre meines Vaters.«
Noemis Haar strich über seine Wange, er wusste nicht, ob das wirklich geschah oder nur in seinen Gedanken, aber er hörte ihre Stimme vom Sturm getragen an seinem Ohr. »Aber du bist mir auf das Schlachtfeld gefolgt. Du bist mir nachgegangen, obwohl dein Licht dich umfangen hielt, obwohl es gegen jede deiner Regeln verstieß. Warum hast du das getan?«
Er zögerte. Er hätte ihr tausend Gründe nennen können, angefangen bei Nando, dem Menschenkind, das ein bemerkenswertes Talent dafür hatte, ihn im Innersten zu berühren. Er hätte auch von Hadros sprechen können, diesem zu Eis erstarrten Krieger, dessen Kern nicht das Licht war, sondern die Furcht – wie bei ihm selbst. Aber er wusste, dass Noemi die Wahrheit verdient hatte. Lange genug hatte er sie vor ihr und sich selbst verborgen.
»Ich habe dich angesehen«, erwiderte er. »Du bist vor mir zurückgewichen wie vor einem Fremden, und ich habe dich inmitten deiner Feinde gesehen. Ich wusste, dass du diesen Kampf nicht überleben würdest, ganz gleich, wie stark du bist. Und diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen. Er trieb mich hinaus aufs Schlachtfeld und mitten hinein in den Fluchzauber, der dich töten wollte. Niemals hätte ich das zugelassen, und daher lautet die Antwort: Du bist der Grund, Noemi. Kein anderer ist so stark wie du.«
Schweigend sah sie ihn an. Nie zuvor waren ihm die goldenen Sprenkel aufgefallen, die im Grün ihrer Iris tanzten. Sie neigte den Kopf, aber er wollte ihren Blick nicht verlieren, und ehe er sichs versah, strich er ihr das Haar aus der Stirn. Es war weich wie die Nacht, und als Noemi den Kopf an seine Brust legte und auf seinen Herzschlag lauschte, da wünschte er sich, für immer so zu bleiben – mit Tränen auf dem Gesicht, von Schnee umtost in einem Meer, das erloschen war. Gemeinsam hörten sie auf das Flüstern des Windes, und Avartos spürte ihn auf seinem Gesicht, so sanft, sehnsüchtig und zugleich voller Frieden … so vollkommen, als wäre er wirklich dort.
40
Die Dunkelheit legte sich auf Nandos Augen wie ein undurchdringlicher Schleier. Sanft glitt sie über seine Haut und führte ihn hinter Carmenya in die Höhle, in der noch immer der See lag – jenes Herz der Dunkelheit, das das Gold der Ersten Stunde in sich trug.
Die Brüder des Lichts bewegten sich
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