Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
silbernen Gussfiguren, die in der flachen Wasserschale erstarrt waren, und wollte sich erneut aufrappeln. Doch dieses Mal sauste Noemis freie Hand auf seine verletzte Schulter und drückte zu. Er stieß einen Schmerzenslaut aus, der sie jedoch nicht im Geringsten zu beeindrucken schien.
»Siebzehn Dornen der Nacht«, sagte sie leise, aber so eindringlich, dass ihre Worte sich in sein Fleisch senkten. »Siebzehn Flüche der Schatten haben sich durch deine Haut gegraben und in deinem Körper eingenistet. Wie oft muss ich dich noch daran erinnern?«
Stöhnend sank Avartos zurück auf sein Lager. Er konnte nicht sagen, wann er zum letzten Mal erwacht war, aber die Erinnerungen pulsten schmerzhaft durch seine Gedanken. Mühsam hatte er sich auf die Beine gezwungen, um Hadros’ durchscheinenden Körper zu betrachten, und er wäre mit Nando, Kaya und Carmenya tiefer in die Katakomben gestiegen, um vor seiner Beisetzung in der Dunkelheit um ihn zu trauern, wenn Noemi ihn nicht davon abgehalten hätte.
»Einige habe ich bereits entfernt«, sagte sie nun, als hätte er das nicht schon oft genug von ihr gehört. »Andere schieben noch in diesem Augenblick ihre Fühler durch deinen Leib. Wenn du genau horchst, kannst du sie flüstern hören. Aber ich würde es dir nicht raten, Engel des Lichts. Denn diese Flüche sind tödlich, auch für Gedanken. Sie werden dich fressen, von innen nach außen, wenn ich sie nicht entferne – also sei still und lass mich meine Arbeit erledigen, wenn du nicht in wenigen Stunden eine Skulptur aus Silber sein willst.«
Avartos hatte schon eine passende Antwort auf der Zunge, als der Schmerz ihm die Lunge zusammenpresste. Keuchend sah er zu, wie Noemi sich mit der Zange seiner Brust näherte. Das Metall senkte sich in sein Fleisch, drang tiefer und erfasste den Dorn, der tückisch in Richtung seines Herzens gewandert war. Langsam zog Noemi ihn aus seinem Körper. Der Fluch wand sich wie ein Egel in ihrer Zange und erstarrte klirrend im Wasser. Sofort floss der kühlende Zauber in die Wunde und begann sie zu heilen. Wortlos reinigte Noemi die Zange erneut über dem Feuer. Ihr Blick zeigte absolute Konzentration.
»Du machst das sehr gut«, stellte Avartos fest und setzte sich ein wenig auf. Erneut war er mehr als erleichtert, als er feststellte, dass sie abgesehen von einer leichten Wunde an der Schulter keine Verletzungen davongetragen hatte.
»Mein Vater war einer der besten Heiler Bantoryns«, erwiderte sie. »Er brachte mir bei, wie die Magie der Schatten zum Guten verwendet werden kann. Doch auch sie kann nicht alles heilen. Er hat nie verwunden, dass er meine Mutter nicht retten konnte.«
Sie senkte die Zange so plötzlich in seinen Oberschenkel, dass er zusammenfuhr, doch er gab keinen Laut von sich und holte erst Atem, als der gebannte Fluch im Wasser landete. »Wirst du mein Volk für alle Zeit hassen?«, fragte er dann, und ihm entging nicht, dass Noemi kurz innehielt, ehe sie ihr Instrument wieder über das Feuer hielt.
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Seit ich denken kann, habe ich das Licht verachtet. Ich verabscheute dein Volk für den Tod meiner Mutter und die Verzweiflung meines Vaters, und ich begann es zu hassen, als mein Bruder von Engeln erschlagen wurde. Und Engel waren es auch, die mir meine Heimat nahmen – die Stadt, die ein Gefängnis war und doch das einzige Zuhause, das ich jemals besaß. Und noch immer würden sie alles vernichten, was für mich von Bedeutung ist. Lange Zeit glaubte ich, dass sie es aus Verblendung tun, aus Zorn, Gier oder Hass, und dafür verachtete ich sie noch mehr, doch nun … «
»… nun hast du mich gerettet«, sagte er, als sie nicht weitersprach. »Mich, einen Engel, der so großen Anteil hatte an deinem Leid.«
»Ohne dich wäre ich jetzt tot«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. »Du hast deinen Tod in Kauf genommen, um mein Leben zu bewahren.«
Er schwieg kurz. »Dennoch musstest du auch meinetwegen in dem Gefängnis leben, das dir zur Heimat geworden ist.«
Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Züge. »Wir Nephilim haben in einem äußeren Gefängnis gelebt. Aber ihr Engel habt diesen Kerker in euch selbst errichtet, und das ist viel schlimmer. Hadros ist gefallen, doch er starb nicht für das, was ihn jahrhundertelang in die Schlacht führte, nicht für das Licht seines Volkes oder den Kampf gegen den Teufel. Er starb für etwas, das viel stärker ist als jeder Hass.« Sie sah ihn an, und er konnte ihre weiteren Worte
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