Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
ihnen zuvorkommen, und das so schnell wie möglich. Unsere Krieger sind stark, unser Wille ist ungebrochen, aber die Hölle hat uns verwundet, und eines hat mich die Reise durch die Schatten gelehrt: In unserer jetzigen Lage müssen wir andere Wege gehen als bisher, um unser Ziel zu erreichen.«
Anlorya hob leicht den Kopf, und diese Bewegung genügte, um ihrem Blick etwas Stechendes zu geben. »Von welchen Wegen sprichst du?«
»Es gibt jemanden«, erwiderte Avartos, »der ihnen gewachsen wäre. Der Krieger des Ersten Lichts, Herrscher der Scherben und Flüche der Kerebrar, Höchster Jäger des Schwarzen Blutes, Träger der Zwölf Flammen und Meister der Silbernen Raben. Nie hat unser Volk einen mächtigeren Jäger hervorgebracht. Ich spreche von Hadros Baldur Ragnarvar. Er wird den Schatten begegnen können, wie er es schon einmal tat, daran zweifle ich nicht.«
Kurz betrachtete die Königin ihn schweigend. »Der Höchste Jäger ist verschollen«, sagte sie dann. »Niemand weiß, wo er sich aufhält und ob er noch lebt. Willst du ihn suchen? Willst du dich erneut in die Schatten begeben, allein? Oder mithilfe zweier Rekruten, die noch nicht einmal in die Garde dieser Stadt aufgenommen wurden?« Sie sah Nando so plötzlich an, dass er sich nur im letzten Moment und unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft davon abhalten konnte zurückzuweichen. »Woher kommst du?«
Ihr Blick war wie eine Schlinge, die sich um Nandos Kehle zog. Schnell räusperte er sich und neigte den Kopf, wie Avartos es ihn gelehrt hatte. »Aus der Kluft der Toten Felsen, Eure Majestät«, sagte er und war von sich selbst überrascht. Seine Stimme klang fest, und die kaum hörbare Vibration konnte ebenso gut der Aufregung geschuldet sein, der Königin der Engel gegenüberzustehen.
Anlorya hob spöttisch die Brauen. »Ein wackerer Krieger, der im Schmutz der Schatten aufwuchs.«
Nando bemerkte, wie Noemi den Atem anhielt, als erwartete sie, jeden Moment ebenfalls befragt zu werden. Doch da ergriff Avartos wieder das Wort. »Die Schergen der Schatten hielten mich gefangen, aber ich entkam ihnen mithilfe dieser beiden Engel. Ihre Eltern wurden von Dämonen erschlagen, und sie verbargen sich in den Brak’ Az’ghur wie so viele vor ihnen, denn sie glaubten den Gerüchten, die das Pack über uns erzählt. Sie sind ungeschliffen, keine Frage, doch ihr Potenzial ist groß, und für das, was ich vorhabe, benötige ich unverbrauchte Krieger – Engel, die die Schatten wenig genug kennen, um sie nicht zu fürchten.« Er hielt kurz inne, und Nando wusste nicht, ob er diese Pause geplant hatte oder ob er sie brauchte, um die Worte gewaltsam über seine Lippen zu treiben. »Wir haben es mit Legenden zu tun«, sagte Avartos dann. »Wir sollten ihnen mit einer Legende begegnen.«
Die Königin sah ihn an, kurz wurde das Licht ihrer Augen so hell, dass es schmerzte. Doch Avartos wich nicht zurück. Regungslos stand er in diesem eisigen Schein, ließ ihn über sein Gesicht fließen wie Regen und erwiderte den Blick, ehe Anlorya sich abwandte. Langsam nickte sie, und Nando meinte schon, aufatmen zu können, als sie ihn erneut ansah.
»Wurden sie bereits geprüft?«, fragte sie beiläufig. Das Lächeln auf ihren Lippen war kalt.
Avartos nickte. »Ich tat es selbst. Das Blut unseres Volkes fließt in ihren Adern, und das in einer Reinheit, die ihre Macht über das gewöhnliche Maß erhebt. Beide können es weit bringen in der Garde, daran zweifle ich nicht.«
Die Königin hatte ihn nicht angesehen, und noch während ihr Blick auf Nando ruhte, kroch etwas Lauerndes in ihre Augen. »So werden sie ihm standhalten, nicht wahr?«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ihm – dem Auge der Dämmerung?«
Hätte Nando in den vergangenen Wochen nicht so viel Zeit mit Avartos verbracht, hätte er die Anspannung nicht bemerkt, die nun durch seinen Körper ging. Nicht mehr war es als eine Nuance, schwächer als einer der Funken, die über den kristallenen Boden tanzten, und doch genügte dieser Hauch, um Nando das Blut aus dem Kopf zu ziehen. Furcht. Das war es, was Avartos empfand, und er sorgte sich nicht um sich selbst oder sein Volk oder ihren verdammten Plan. Was auch immer die Königin vorhatte – es würde sie unaufhaltsam an die Grenze ihrer Maskerade treiben.
»Meine Königin«, begann Avartos, doch sie warf ihm einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte.
»Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Mittel, du hast es selbst gesagt«, entgegnete sie.
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