Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
»Du wirst nicht mit zwei Engeln in die Schatten reisen, die den Großteil ihres Lebens in selbigen verbracht haben. Nicht, ohne dass sie ins Licht geblickt haben.« Sie wandte sich an Nando. »Ihr habt die Wahl: Wollt ihr diesen Krieger auf seiner Reise begleiten? Dann stellt euch der Prüfung. Gibt das Auge der Dämmerung euch frei, gewähre ich euch den Zutritt zur Garde dieser Stadt.«
Als sie den Namen zum zweiten Mal aussprach, kam er Nando bekannt vor, als hätte er irgendwo schon einmal etwas über ihn gelesen. Er konnte sich den Schauer, der ihn beim Klang dieser Worte überkam, nicht erklären, doch er hörte deutlich die Frage, die in ihm aufstieg: Und was, wenn dieses verfluchte Auge uns nicht freigibt? Er schaute die Königin an und wollte keine Antwort hören. Welche Wahl hatten sie? Er nickte, Noemi tat es ihm gleich. Die Königin befahl sie mit einer Handbewegung zum Baum und hielt Avartos zurück, der ihnen folgen wollte. »Du kennst das Licht des Auges«, sagte sie beinahe sanft. »Du weißt, dass du niemandem helfen kannst, der einmal hineingeriet.«
Nicht einmal der Hauch von Zorn zeigte sich auf Avartos’ Gesicht, aber Nando konnte ihn fühlen, glühend und dunkel drängte er sich hinter der Stirn des Engels zusammen. Schnell wandte er sich ab und trat neben die Königin. Auf einen Fingerzeig von ihr glitten die Zweige auseinander und gaben den Weg frei zum Stamm, der sich in mehreren Strängen aufwärtswand. Kaum dass Anlorya die Rinde berührte, wurde das milchige Glas durchscheinend. Ein schimmernder Glanz brach durch das Kristall, erst rot wie ein Herzschlag, dann silbern wie das Licht der Sterne und schließlich golden wie die Augen eines Engels. Der Baum löste sich in feinen Nebel auf, und vor ihm, von nichts gehalten als einem leise flackernden Kranz aus Licht, schwebte ein schädelgroßer Stein. Er war schwarz und so glatt, dass Nando sein Gesicht darin gespiegelt fand, und er hörte Stimmen, verschlungen und düster. Sie wisperten einen Namen, Nando fühlte ihn auf seinen Lippen, und erst als er ihn aussprach, erinnerte er sich.
»Okaryn«, flüsterte er. »Das Herz der Schattenwelt.«
Goldene Lichter flammten im Stein auf und flackerten über Nandos Gesicht. Er hatte von diesem Stein gelesen, diesem Zauber, der die Welt der Schatten mit all ihren Gesetzen in ihrem jetzigen Zustand erhielt, und er meinte, das uralte Pergament von Antonios Büchern unter seinen Fingern zu spüren, als er nun die Stimme der Königin hörte.
»Niemand weiß, woher er stammt. Manche Legenden sagen, er sei dem Volk der Geister geraubt worden, einige erkennen ein Drachenauge in ihm, und wieder andere glauben, dass er im Himmelreich geboren wurde wie die ersten Engel dieser Welt. Ich habe nie viel darum gegeben, was die Welt glaubt. Doch ich kenne die Macht dieses Steins. Er hält unsere Welt aufrecht, schützt die Sterblichen vor dem Glanz unseres Volkes und birgt die Macht all jener Könige in sich, die vor mir über die Engel herrschten. Er ist wahrlich das Herz unserer Welt, denn er hält die Kräfte im Gleichgewicht – und er sieht alles. Früher, als die Welt noch jünger war, stürzten sich die besten Krieger unseres Volkes in seinen Glanz, um ihren Heldenmut zu beweisen. Die meisten von ihnen verbrannten binnen weniger Wimpernschläge zu Asche. Andere erstarrten zu Eis, und nur die wenigsten ertrugen sein Licht und kehrten in größerer Stärke und Weisheit zurück.« Sie lachte leise, als Noemi die Luft einsog. »Ihr fürchtet euch. Aber habt keine Angst vor dieser Prüfung. Alles, was ich verlange, ist ein Blick hinein … nur ein Blick in seinen Glanz. Das wird genügen, um euch ins Innerste zu schauen.« Sie hielt kurz inne. »Seid ihr bereit?«, fragte sie dann, und ehe die Furcht in Nando überhandnehmen konnte, stimmte er ebenso wie Noemi zu. Als die Königin einen Zauber murmelte, flammte das Gold im Inneren des Steines auf und hüllte sie in einen lodernden Schleier.
In gleißender Schärfe traf es Nandos Augen. Schmerz zuckte durch seinen Kopf, er spürte die Glut, die in diesem Licht lag. Langsam kroch sie vorwärts, zog sich durch seine Gedanken und seine Kehle hinab. Seine Muskeln spannten sich, kurz sah er nur noch das Licht um sich herum – und hörte das Keuchen neben sich. Er erkannte Noemi im grellen Glanz. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und für einen Moment sah er sie wieder hilflos auf der Schwarzen Brücke stehen, gefesselt von Bhrorok. Wild bäumte sie sich gegen das
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