Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
dass er in seinen Gemächern herumschnüffelte, und so zügelte er seine Neugier und setzte seinen Weg fort. Der Engel war bereits mitten in der Nacht aufgebrochen, um seine Truppen neu zu instruieren, doch er hatte es nicht versäumt, seine Schützlinge dazu anzuhalten, im Übungssaal des Hauses auch ohne ihn pünktlich mit dem Training zu beginnen. Nando hatte es nicht über sich gebracht, Noemi zu wecken. Tief und fest hatte sie geschlafen, ebenso wie Kaya, aber ihm selbst fiel es nicht leicht, sich an den Tag- und-Nacht-Rhythmus hier oben zu gewöhnen. Sein Leben in der Unterwelt hatte in der Nacht stattgefunden, und so streunte er schon seit einer Weile durch die Säle in Avartos’ Heim und schüttelte immer wieder den Kopf darüber, wie kunstvoll dieses Gebäude war, wie prächtig eingerichtet, wie riesengroß – und wie einsam. Er hatte keinerlei persönliche Gegenstände entdecken können, und gerade als er sich zu fragen begann, ob der Engel sich wegen der gläsernen Kälte seines Heims in die Abenteuer der Welt stürzte, erreichte er den Übungssaal.
Er war mit dem flammenden Siegel der Garde versehen, und als Nando die Tür öffnete und eintrat, umfing ihn in dem großen Saal der Duft vom Rauch erloschener Zauber.
Ein Säulengang säumte sein Oval und trug eine kristallene Kuppel, durch die ein wenig Licht auf den reliefverzierten Trainingsgrund fiel. Zwischen den Säulen, so groß, dass ihre Köpfe fast bis hinauf zur Decke reichten, standen riesige Engelsstatuen. Sie trugen Rüstungen, Schwerter und andere Waffen und wandten grollend die Köpfe, als Nando die Trainingsfläche betrat. Ihre Augen lagen im Dunkeln, aber er verharrte instinktiv, als würden sie jeden Moment die Schwerter auf ihn richten. Ihre Körper bestanden aus Gold, und er betrachtete sein Spiegelbild in einem der glänzenden Sockel. Immer wieder war er in den vergangenen Stunden zusammengefahren aus Angst, dass ein Bewohner Nhor’ Kharadhins seine Tarnung bemerken könnte, doch nun, da er sich selbst zulächelte und das Gold seiner Iris im Flammenschein funkelte, hätte er sich beinahe selbst für einen Engel gehalten. War es die Uniform der Garde, die ihn den Kriegern der Stadt so ähnlich machte? Oder lag es an dem ungewöhnlichen Ausdruck seiner Augen, die im flackernden Fackelschein ebenso kalt wirkten wie der goldene Glanz der Engel? Er neigte leicht den Kopf und streifte die Maske der Gleichgültigkeit ab. Ob es an der zunehmenden Kraft seines Oreymons lag, dass er sie selbst kaum noch bemerkte?
»Was tust du hier im Dunkeln, Teufelssohn?«
Die Stimme ließ ihn zusammenfahren. Er stieß ärgerlich die Luft aus, als die Fackeln an den Wänden aufflackerten und Noemis Gestalt im Türrahmen erhellten. Mit düsterer Miene schaute sie zu den Statuen auf und kam mit zwei Langstöcken und einem glimmenden Zauber auf ihn zu.
»Du hättest mich wecken können«, stellte sie fest.
Nando hob spöttisch die Brauen. »Unmöglich. Du hast so tief geschlafen, als hättest du vergessen, dass du in einem Haus des Lichts übernachtest. Und ehrlich gesagt genügt es mir vollkommen, von Avartos’ Training durch die Mangel gedreht zu werden, da wollte ich nicht auch noch den Zorn einer müden Halbdämonin auf mich ziehen.«
»Vielleicht war das gar nicht so dumm.« Noemi lachte und deutete auf die Stöcke und den Zauber. »Avartos hat wahrscheinlich gedacht, dass ich in seinem Haus kein Auge zutue. Er hat mir unsere Trainingsutensilien ins Zimmer gelegt, mitsamt der Nachricht, dass wir in den nächsten Tagen eine Rüstung vom besten Schmied der Stadt bekommen sollen. Den Zauber sollen wir in die Mitte des Reliefs legen, wenn wir bereit sind, mit dem Training zu beginnen. Was wir mit den Stöcken allerdings anfangen sollen, weiß ich nicht, darüber hat er nichts geschrieben.«
Nando zuckte die Achseln. »Lass uns einfach anfangen, dann werden wir schon sehen, was passiert.«
Noemi seufzte. »So ist es mir am liebsten: Keine Ahnung von gar nichts, aber erst einmal machen und dafür ordentlich was auf den Schädel bekommen.«
Sie platzierte den Zauber in der Mitte des Saales. Sofort glommen die Linien des Reliefs auf, zischende Funken liefen darüber hin und strömten auf zwei sich gegenüberliegende Bodenplatten zu. Knisternd explodierten sie in den Steinen und färbten sie tiefrot. Die Augen der Statuen entfachten sich zu goldenem Feuer, als Nando mit seinem Langstock auf eine der Platten zutrat. Noemi warf ihm einen Blick zu, als würde
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