Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Engelskrieger vergangener Zeiten, strahlend, unangreifbar und … «
»… leblos?« Noemi sah ihn an, kurz meinte er, ihr würden die Tränen kommen. Aber dann hob sie den Kopf, und ihre Stimme klang fest, als sie weitersprach. »Du kannst das vielleicht aushalten. Diese Kälte, diese Helligkeit, diese Leere. Aber ich kann das nicht. Ich würde damit alles verraten, was ich bin.«
Sie war so nah bei ihm, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihre Wange zu berühren, und gleichzeitig war sie unendlich weit von ihm entfernt. Nie zuvor hatte Nando eine solche Kluft zwischen ihnen gespürt, nicht einmal damals, als Noemi ihm in Schmerz und Zorn begegnet war.
Sie deutete auf die Statuen am Rand des Saals. »Sie sind tot«, flüsterte sie kaum hörbar. »Sie alle, deine glorreichen Sklaven des Lichts, sind tot. Sie haben mir meine Familie genommen, sie haben meine Heimat zerstört und Silas ermordet. Aber mich, Sohn des Teufels – mich kriegen sie nicht.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und durchquerte den Raum. Noch einmal sah Nando ihr Gesicht am Grab ihres Bruders, das wie eine offene Wunde gewesen war, und für einen Moment wollte er ihr nachlaufen, wollte an ihre Seite treten als der, der er einmal gewesen war. Doch er konnte es nicht. Er hatte sich für einen Weg entschieden. Erst als Noemis Schritte verklungen waren, verließ auch Nando den Raum. Die kalten Blicke der Engel folgten ihm.
13
Avartos bewegte sich lautlos durch die Flure der Akademie. Seit seiner Ausbildung wusste er, dass jeder falsche Schritt auf dem spiegelglatten Boden kreischende Geräusche verursachte, und so hatte er schon in frühester Jugend begonnen, seine Anwesenheit vor diesem sterilen Glanz zumindest akustisch zu verbergen. In jedem anderen Bereich verstand die Akademie sich ohnehin darauf, ihre Schüler zu durchschauen und sie in sich aufzusaugen, als wären sie nichts als leblose Glieder eines verstreuten Leibes, die unter einem mächtigen Willen wieder zusammengefügt werden mussten.
Weder Nando noch Noemi gelang es, sich ähnlich lautlos zu bewegen, doch nach einer Weile ignorierten sie die von ihnen verursachten Geräusche und spähten neugierig in die Kampfsäle, in denen der Unterricht stattfand. Kaya hockte auf Nandos Schulter und schaute missmutig von einem zum anderen, und auch Avartos war die seltsame Stille nicht entgangen, die seit Kurzem zwischen seinen Schützlingen herrschte. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie darauf anzusprechen – allerdings nicht sonderlich lange. Ihm stand nicht der Sinn danach, sich mit den postpubertären Verspannungen zweier Halbmenschen auseinanderzusetzen, ganz besonders dann nicht, wenn er die halbe Nacht damit verbracht hatte, seine Truppen an der Nase herumzuführen. Es war ihm nicht leichtgefallen, seine eigenen Offiziere auf eine falsche Fährte zu schicken, die sie auf der Jagd nach dem Teufelssohn weit hinaus vor die Tore Roms führen würde, und als würde irgendeine höhere Instanz ihn dafür strafen wollen, brannten seine Augen seit den frühen Morgenstunden wie Feuer. Bildete er sich nun schon ein, wie ein Mensch unter Müdigkeitserscheinungen zu leiden? Oder war sein Unwohlsein dem eigentümlichen Duft der Akademie geschuldet, in die er nun erstmals seit seinem Weg in die Schatten zurückkehrte? Der Geruch war kalt und leicht stechend und trug dieselbe lauernde Sterilität, die Avartos auch in den Schulen der Menschen gefunden hatte und die nur darauf wartete, die Kinder mit einer diffusen Angst zu infizieren, die eine seltsame Art der Lähmung nach sich zog: Kaum von ihr befallen, war ihnen ein Denken oder Handeln jenseits vorgegebener Pfade nicht mehr möglich. Avartos fuhr sich über die Augen. Seit seinem ersten Tag in Nhor’ Kharadhin gehörte die Akademie zu seiner Welt. Hier hatte er seine Ausbildung erhalten, hier hatte er sämtliche Auszeichnungen seiner Laufbahn in Empfang genommen, und hier hatte er selbst damit begonnen, junge Rekruten auf ihre Zeit in der Garde vorzubereiten. Sein Bild hing in der Galerie der herausragenden Krieger, zu denen die Schüler ehrfurchtsvoll aufblickten, er war einer der stärksten Engel, die diese Akademie je hervorgebracht hatte, und dennoch war er gegen ihren Geruch machtlos, der ihn jedes Mal mit dem Hohn eines Vaters begrüßte, der den ungenügenden Sohn empfing. Avartos blieb vor einer Tür aus dunklem Glas stehen und schickte sein Lächeln auf seine Lippen, dieses Lächeln aus leisem Spott, das zu seinem
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