Die Chroniken des Paladins 01. Tharador - Bellem, S: Chroniken des Paladins 1 Tharador
besitzen.
»Für dich, Raltas«, flüsterte sie den Namen des Mannes, der ihr Leben so sehr verändert und bereichert hatte. Sie erinnerte sich mit Grauen an die Zeit, bevor er sie gefunden hatte. Als Waisenkind war sie bei den Priesterinnen der Magra aufgewachsen. Sie waren freundlich gewesen, doch sie hatten ihr nie die Wärme eines Zuhauses vermitteln können, die sie als Kind so dringend gebraucht hätte. Als sie den Tempel verlassen hatte, war sie völlig allein gewesen. Zuerst hatte sie gebettelt und sich als Korbbinderin verdingt. Doch als sie älter geworden war, hatte sie einen schnelleren Weg entdeckt, um an Gold zu kommen. Männer hatten viel für ihren Körper gezahlt, und sie hatte ihnen meist noch mehr abgenommen, wenn die Freier nach dem Akt erschöpft und unaufmerksam gewesen waren.
Eines Tages trat Raltas in ihr Leben. Zunächst war er wie jeder andere auch gewesen – nicht ganz so schmierig, aber nur ein Mann, der sie für ihre Dienste entlohnte. Doch schon bald besuchte er sie immer häufiger, bezahlte ihr mehr Gold und hatte sie viele Stunden einer Nacht für sich. Zu ihrer damaligen Verwunderung verbrachte er einen Großteil dieser Zeit damit, sich mit ihr zu unterhalten. Schließlich nahm er sie mit, fort aus der heruntergekommenen Kaschemme, an die sie ohnedies keine glücklichen Erinnerungen banden.
Schon bald erkannte sie, womit Raltas sein Gold verdiente: Er war ein Dieb. Und ein sehr guter dazu. Ihre Beziehung brachte mit sich, dass er ihr sein Handwerk beibrachte und sie das ihre nicht mehr auszuüben brauchte – zumindest nicht mehr gegen Bezahlung. Raltas sprach oft davon, Totenfels zu verlassen, doch es gab etwas, eine Kostbarkeit, die er außer ihr noch haben musste.
Die Frau des Grafen trug eine makellose Halskette, von der man sagte, dass sie aus der Zeit des ersten Grafen, Balburan Totenfels, stamme. Raltas hatte die Kette einst gesehen und war ihr verfallen. »Ich werde sie für dich als Hochzeitsgeschenk besorgen«, versprach er ihr und verschwand. Er kehrte nicht zurück, und seine Leiche baumelte viele Tage am Galgen vor den Toren der Stadt.
Am Tag, an dem man ihn aufgeknüpft hatte, war sie aus dem kleinen Haus geflohen, das sie bis dahin mit Raltas bewohnt hatte, und war erneut in den Straßen der Stadt untergetaucht, um schon bald danach wieder ihrer früheren Arbeit nachzugehen. Doch sie hatte sich geschworen, ihn und das, was er für sie getan und ihr beigebracht hat, niemals zu vergessen und eines Tages die Kette zu tragen, die er ihr versprochen hatte.
Dieser Tag war nun gekommen.
Auf dem Boden ihrer Kleidertruhe verwahrte sie eine weitere kleine Kiste. Die Diebin überprüfte noch einmal, ob die Zimmertür auch gründlich verschlossen war. Zur Sicherheit stemmte sie noch die Stuhllehne unter den Türknauf.
Vorsichtig hob sie die Kiste heraus und stellte sie behutsam auf den Boden. Schon die kleinste Erschütterung konnte die Phiole mit Säure zerspringen lassen und ihr gesamtes Vorhaben ruinieren. Gleichzeitig bot diese Falle aber auch Schutz vor unliebsamen Überraschungen. Hätte ein Scherge des Grafen jemals ihre Sachen durchsucht und dabei die kleine Kiste aufgebrochen, so hätte er nichts darin gefunden außer den Schleim, zu dem die Säure den Inhalt in kürzester Zeit verwandelt hätte. Sie hatte die Kiste lange versteckt gehalten. Damals hatte sie nicht den Mut zu diesem Wagnis gehabt. Als die Gemahlin des Grafen vor mehreren Jahren gestorben war, hatte sie ihren Plan gescheitert gesehen, hatte sie doch angenommen, dass die Kette mit ihr begraben würde. Doch ein redseliger Diener des Grafen, der hin und wieder ihre Dienste in Anspruch nahm, hatte ihr geflüstert, dass der Graf die Kette noch immer in der Burg verwahrte. Der Junge war so erpicht darauf gewesen, sie zu beeindrucken, er hatte ihr sogar erzählt, dass die Kette im Arbeitszimmer des Grafen liege, wo er sie täglich betrachten konnte – und nicht etwa in der Schatzkammer der Burg.
Sie vertrieb die ablenkenden Gedanken aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihr lag. Das Vorhängeschloss der Kiste öffnete sie mühelos mit einem Dietrich. Es sollte eher verhindern, dass der Deckel unbeabsichtigt geöffnet wurde, als den Inhalt der kleinen Truhe zu schützen.
Vorsichtig öffnete sie die Kiste einen Finger breit, mehr Spielraum stand ihr nicht zur Verfügung. Um zu verhindern, dass ein ungewolltes Zittern ihrer Hand den Deckel bewegen und die Falle auslösen würde,
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