Die Chroniken des Paladins 01. Tharador - Bellem, S: Chroniken des Paladins 1 Tharador
kurzen Moment gestattete sie sich Mitgefühl mit Totenfels. Den Schmerz, einen geliebten Menschen zu verlieren, kannte sie nur zu gut. Sie hegte keinen Groll gegen den Grafen. Raltas war ein Dieb gewesen, er hatte die Gefahren gekannt, auf die er sich eingelassen hatte. Und er war bestraft worden. Der Graf hatte seine Gemahlin sehr geliebt, und für diesen Schmerz verdiente er ihr Mitgefühl. Wie viel mehr würde er leiden, wenn er bemerkte, dass die Kette verschwunden war? Rasch verdrängte sie den Gedanken. Wäre sie ihm länger nachgegangen, hätte sie ihren Schwur womöglich nicht zu erfüllen vermocht.
Gründlich untersuchte die Diebin den Schreibtisch. Es gab kein äußeres Anzeichen für eine Falle, also entschied sie, ihr Glück einfach mit der ersten Schublade zu versuchen.
Sie zog vorsichtig am Griff, musste jedoch feststellen, dass die Schublade verschlossen war. Es war ein einfacher Mechanismus, und sie hatte keine große Mühe, das Schloss mit einem Dietrich zu entriegeln. Behutsam zog sie die Schublade heraus und musterte den Inhalt: einige Tintenfässer, das Familiensiegel nebst Siegelwachs, sauberes Briefpapier, sonst nichts.
Die zweite Schublade war unverschlossen. In ihr lagen einige Bücher. Eines trug den Titel »Lehensvergaben«. Hier bewahrte der Graf also die bürokratischen Schriftstücke auf. Die Diebin bemerkte bald, dass diese Schublade sich ein ganzes Stück weiter herausziehen ließ als die vorherige.
Sie öffnete noch einmal die oberste Lade und tastete mit der Hand behutsam alle Seiten ab.
Plötzlich stießen ihre Finger auf etwas. Allerdings nicht in der Schublade selbst, sondern in der Tischplatte unmittelbar darüber. Es handelte sich um eine kleine Schraube, wie sie schnell erkannte. Von der Schraube gingen zwei feste Schnüre aus, die auseinander liefen und von denen jede über eine der hinteren Ecken der Schublade geführt wurde. Weiter vermochte die Diebin die Hand nicht hineinzustecken.
Das war auch gar nicht nötig – sie hatte bereits eine recht genaue Vorstellung von der Konstruktion. Es war üblich, Schubladen an den Enden mit kleinen Seilen zu halten, damit sie nicht aus der Führung sprangen, wenn man sie zu weit auszog. Mit dieser Schraube konnte man vermutlich bestimmen, wie weit die Seile nachgaben und die Schublade herausstand.
Erneut tastete sie die Schraube ab, und tatsächlich handelte es sich um eine Art Rolle, auf der die beiden Seile zusammenliefen. Behutsam vorsichtig drehte sie daran, sodass die Schublade ein Stück weiter herauskam, bis sie letztlich genauso weit ausgezogen war wie jene darunter.
Dahinter kam ein Geheimfach zum Vorschein, in dem das lag, was sie suchte: die Halskette der toten Gräfin auf einem kleinen Samtkissen, daneben eine kleine Phiole mit einer bläulich schimmernden Flüssigkeit darin. Sie nahm die Kette in die Hand, um sie genauer zu betrachten. Ein schwarzer Stein ruhte in einer goldenen Fassung. Raltas hatte nicht übertrieben, als er gemeint hatte, dass dieses Schmuckstück jedes Wagnis wert sei. Sie würde ein kleines Vermögen dafür bekommen und könnte davon ein sorgenfreies Leben führen. Sie steckte die Kette ein und wollte die Schublade bereits wieder schließen, hielt jedoch inne und begutachtete das kleine Fläschchen genauer. Der Graf würde bestimmt nichts Belangloses neben der Kette seiner Gemahlin in einem Geheimfach aufbewahren, dachte sie und steckte die Phiole in die Tasche zur Kette. Sie würde sich später genauer mit beiden Gegenständen beschäftigen; vorerst musste sie die Burg wieder wohlbehalten verlassen.
Das Zimmer verließ sie so, wie sie es betreten hatte; ungeachtet des Regens kletterte sie mit katzenhafter Leichtigkeit auf das Dach. Am Rundgang legte sie eine kurze Pause ein und befestigte das Seil an ihrer Hüfte. Das andere Ende warf sie um einen der Brüstungssteine und nahm es wieder in die Hände. So konnte sie sich selbst abseilen und würde danach keinen verräterischen Haken zurücklassen müssen.
Das Seil entpuppte sich als etwas zu kurz – die letzten zehn Fuß musste sie springen. Die Diebin sank tief in den aufgeweichten Boden ein, blieb jedoch sicher auf den Beinen. Rasch wickelte sie das Seil auf und machte sich leise und unbemerkt davon.
* * *
Es stimmte also! Die Schrift über Paladine war keine bloße Legende! Demnach verkörperte Tharador Suldras wohl tatsächlich einen heiligen Krieger.
Zumindest deutete Xandor so Gordans Aufzeichnungen, die er gefunden hatte. Sein alter
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