Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
erwiderte der Magier und streckte nun selbst die Hand aus.
Gwilym ergriff sie und grinste.
Orris lächelte ebenfalls. Vielleicht würden sie nach einiger Zeit ja lernen, miteinander zu sprechen. Im Augenblick war er schon froh, dass er und Anizir nicht mehr allein waren.
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I ch habe wieder und wieder versucht, Barams Beschreibungen der hoch entwickelten Waren und Werkzeuge, die in seinem Land hergestellt werden, zu begreifen, aber sie gehen so weit über alles hinaus, was wir hier in Tobyn-Ser haben, dass unsere Sprache der Aufgabe nicht gewachsen scheint. Zu behaupten, dass diese Fähigkeit, die Natur nachzuahmen, jeden Aspekt des Alltagslebens in Lon-Ser prägt, ja das gesamte Leben der Menschen dort beherrscht, wird den Eindrücken des Lebens in Lon-Ser nicht gerecht, die ich bei meinen Gesprächen mit Baram erhalten habe... Nach allem, was ich von ihm erfahren habe, scheint die zwingendste Frage nicht zu sein: »In welcher Weise prägt diese Fähigkeit das Leben der Menschen?«, sondern eher: »Wie kommen sie mit den Grenzen zurecht, die die Natur ihnen dennoch setzt und die sie nicht beherrschen können?« Wenn keine Weiden und Felder mehr existieren, wo bauen sie dann all die Dinge an, die als Nahrung gebraucht werden? Wenn ihr Wasser so verschmutzt ist, was trinken sie stattdessen? Wenn sie ihre Wälder aufgebraucht haben, wie können sie weiterhin Gegenstände herstellen, für die sie Holz benötigen? Wenn wir versuchen, diese Fragen zu beantworten, können wir unsere Feinde vielleicht als Menschen verstehen. Und vielleicht wird dies im Lauf der Zeit gestatten, sie nicht nur als Feinde zu betrachten. Aus Kapitel Fünf des »Berichts von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Ausländers Baram«, vorgelegt auf der 1014. Versammlung des Ordens der Magier und Meister, im Frühjahr des Gottesjahres 4625.
So etwas war Melyor noch nie passiert. Niemals. Sicher hatte sie hier und da wiederkehrende Träume, Albträume, die sich ihr wieder und wieder im Schlaf aufdrängten. Sie hatte den Tag der Ermordung ihres Vaters unzählige Male im Traum erlebt. Aber das waren einfach nur Träume. Niemals zuvor war hatte sie eine Vision mehr als ein einziges Mal gehabt.
Bis zu dieser Nacht. Sie hatte von dem Zauberer geträumt, was seltsam genug war, denn inzwischen hätte er tot sein sollen. Aber sie hatte ihn nicht nur wiedergesehen, sondern diese Vision war auch absolut identisch mit der gewesen, die sie einige Wochen zuvor gehabt hatte. Jede Einzelheit, jede Nuance war dieselbe gewesen. Sobald sie wach geworden war, verschwitzt und atemlos wie immer nach einer Vision, wusste sie, was es bedeutete. Jibb hatte versagt. Sie versuchte, wütend zu werden, aber stattdessen stellte sie fest, dass sie sich eher vage erleichtert fühlte. Dumme Kuh!, knurrte sie sich selbst zu. Das stellt alles in Frage! Und dennoch...
Sie schüttelte den Kopf und schaute auf die Uhr. Es war immer noch früh genug. Sie sprang aus dem Bett, zog sich an und schlich zur Tür. Sie hatte das elektronische Schließsystem schon einen Tag nach ihrer Ankunft in Cedrychs Ausbildungszentrum ausgetrickst, und an den Wachen vorbeizuschlüpfen, die Melyor und ihre Leute im Zentrum festhalten sollten, war lächerlich einfach gewesen, als sie Jibb das letzte Mal aufgesucht hatte. Das Hauptproblem bestand darin, die Alarmauslöser und Überwachungsgeräte zu umgehen, die an den Toren zum eigentlichen Zentrum angebracht waren. Das war ihr beim letzten Mal gelungen, aber nur, nachdem sie viel zu viel Zeit darauf verschwendet hatte. In dieser Nacht konnte sie sich das nicht leisten. Sie hatte auch bei ihrer Begegnung mit Cedrych am folgenden Morgen etwas Merkwürdiges gespürt und war seitdem davon ausgegangen, dass ihr geheimer Ausflug ins Nal doch nicht so geheim geblieben war.
Also beschloss sie, es auf eine andere Art zu versuchen. Genau wie beim letzten Mal schlich sich Melyor durch die hell beleuchteten Flure zum Heber und drückte den Knopf für die Ebene des Gebäudes, auf der sich die Anlagen für die Kampfausbildung befanden. Nachdem sie dort angekommen war und sich überzeugt hatte, dass der Heber wieder zu einer anderen Ebene gefahren war, setzte sie die Schutzvorrichtungen an den Toren zum Heberschacht außer Kraft und kletterte die Wartungsleiter hinunter, diesmal jedoch nicht nur bis zur Hauptebene, sondern den ganzen Weg bis zur zweiten Unterebene. Dort setzte sie wiederum die Türschlösser außer Kraft. Von der zweiten Unterebene
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