Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
schaute sie in Badens Richtung, und als ihre Blicke einander begegneten, lächelte sie müde und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Ist es zu glauben, dass mein Vorschlag so etwas bewirkt hat? Er versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber er konnte es nicht. Es stand zu viel auf dem Spiel, und in diesem Saal waren nicht genug Menschen, die das begriffen. Wieder einmal fragte sich Baden, wie er es in der Vergangenheit schon so oft getan hatte, ob der Orden die Fremden noch rechtzeitig aufgehalten hatte oder ob die Feinde Tobyn-Sers ihr Ziel bereits erreicht hatten: die Eliminierung der Magie, damit das Land in Zukunft ungeschützt war. Ja, der Orden bestand immer noch, aber er war gelähmt von Unentschlossenheit und zerrissen von Konflikten.
Und wenn der Orden zusammenbrechen sollte, was Baden in Kürze erwartete, dann würde die Frau vor ihm, die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte, als Oberhaupt zur Zeit dieses Zusammenbruchs in die Geschichte eingehen. Der Gedanke war einfach unerträglich. Bei mehreren Gelegenheiten in den Monaten vor dieser Versammlung hatte er sich schon geschworen, dass er so etwas nicht zulassen würde. Lautlos tat er es nun ein weiteres Mal. Aber er fürchtete, dass Schwüre und gute Absichten nicht genügen würden, um den Orden vor seiner eigenen Schwäche zu retten. Nicht diesmal, nicht gegen diesen Feind. Etwas würde geschehen. Er hatte es gespürt, als er das Land durchwandert hatte, er hatte es draußen in den Straßen von Amarid wahrgenommen und sogar hier, in der Großen Halle des Ersten Magiers. Er konnte es in der Luft schmecken. Er wusste nicht, welche Gestalt es annehmen oder woher es kommen würde, aber er konnte bereits das erste Grollen vernehmen, wie von einem weit entfernten Gewitter an einem warmen Sommernachmittag. Sie würden nicht mehr lange warten müssen.
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B aram selbst ist ein Mann voller Widersprüche und Gegensätze. Es ist im Grunde schon falsch, ihn als »Mann« zu bezeichnen. Er war gerade erst achtzehn, als er gefangen genommen wurde, und wenn er von seinem Zuhause oder seinen Eltern spricht, ist er immer noch vollkommen jungenhaft. Und dennoch, sobald er leidenschaftslos und in eiskalten Einzelheiten die Gewalttaten beschreibt, die er als »Gesetzesbrecher« in Bragor-Nal und später als williger Teilnehmer bei den Angriffen gegen unser Land begangen hat, verschwindet der Eindruck von Jugend und Unschuld, und es bleibt ein Mörder, ein Mann, den man fürchten muss ... Leider habe ich im Verlauf seiner Gefangenschaft immer weniger von dem Jungen und mehr und mehr von dem Mörder zu sehen bekommen.
Aus Kapitel Vier des »Berichts von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Ausländers Baram«, vorgelegt auf der 1014. Versammlung des Ordens der Magier und Meister, im Frühjahr des Gottesjahres 4625.
Orris kochte vor Wut. Er saß im Adlerhorst, in einer trüb beleuchteten Ecke, und trank mit Jaryd, Alayna, Baden, Trahn und Ursel Amari-Bier. Draußen war es dunkel; die Versammlung hatte sich schon vor mehreren Stunden auf morgen vertagt. Aber im Geist war Orris immer noch in der Großen Halle und erlebte noch einmal die so genannte Debatte, die an diesem Nachmittag stattgefunden hatte. Er lauschte den aufgeblasenen Reden Erlands und seiner Anhänger, den kunstvollen Argumenten, mit denen sie versuchten, ihre Untätigkeit und ihre Feigheit zu rechtfertigen, und die ihn abwechselnd traurig gemacht oder beinahe dazu gebracht hatten, sich zu übergeben. Aber überwiegend hatten sie ihn in Wut versetzt. Diese Magier hatten geschworen, Tobyn-Ser zu schützen! Sie hatten ihr Leben den Lehren des Ersten Magiers gewidmet! Und dennoch, angesichts der größten Gefahr, der das Land seit tausend Jahren gegenüberstand, blieben sie untätig! Erkannten sie denn die Gefahr nicht? Bedeuteten ihnen ihre Schwüre nichts?
Und leider waren Arslan und seine Freunde mit ihrer Gier nach Vergeltung und ihrem Glauben an die Unbesiegbarkeit der Magie beinahe ebenso schlimm. Jahre zuvor wäre Orris vielleicht einer von ihnen gewesen: kriegerisch, störrisch, leichtsinnig. Aber inzwischen war er älter und reifer geworden. Er war in Therons Hain gewesen, als Sartol Jessamyn und Peredur getötet hatte, er hatte den plötzlichen, alles verschlingenden Schmerz erlebt, seinen ersten Vogel, Pordath, zu verlieren, der von Sartols Eule getötet worden war, als Orris versucht hatte, Jaryd und Alayna vor dem Abtrünnigen zu retten; und er hatte die Zeugnisse
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