Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
gewesen.« Oswin lächelte, aber sein Blick blieb ernst. »Nun, wir freuen uns wirklich. Aber du machst mich neugierig. Wohin willst du so kurz vor dem Winter mit einem so vollen Rucksack?« Gwilym hatte den Rucksack, den er immer noch trug, ganz vergessen, aber als Oswin ihn erwähnte, wurde er sich wieder des Gewichts bewusst. Nun reichte er Oswin seinen Becher, schwang den Rucksack von der Schulter und spürte sofort die kalte Luft an seinem verschwitzten Rücken. »Er ist nicht ganz so schwer, wie er aussieht«, meinte Gwilym mit einem Blick zu dem älteren Mann, der geduldig auf eine Antwort auf seine Frage wartete. »Aber es tut gut, ihn einige Zeit loszuwerden.«
»Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete Oswin und gab Gwilym seinen Becher zurück.
Gwilym holte tief Luft. »Ich bin auf dem Weg nach Bragor- Nal«, sagte er. »Ich hatte eine Vision, die mich glauben lässt, dass ich keine andere Wahl habe.«
Man musste es Oswin lassen - er reagierte nicht heftiger als mit einem Hochziehen der Brauen. »Erzähl mir, was du gesehen hast.«
Gwilym war in gewisser Weise erleichtert, mit jemandem über die Angelegenheit reden zu können, für den emotional wenig auf dem Spiel stand, wenn er, Gwilym, das Gebirge verließ. Also beschrieb er seine Vision ausführlich. Wieder reagierte Oswin kaum, während er zuhörte, er bat Gwilym nur hin und wieder, etwas zu wiederholen. Dabei gingen sie in einem kleinen Kreis durch den oberen Teil der Siedlung, und gerade als Gwilym mit seinem Bericht fertig war, hatten sie auch Oswins Zelt wieder erreicht.
»Ich dachte, ich sollte dich wissen lassen, dass ich gehe und warum«, erklärte Gwilym, als sie wieder vor dem Zelt standen. »Ich hatte nicht die Zeit, Boten zu schicken. Könntest du bitte die anderen Träger informieren?«
Oswin nickte. »Selbstverständlich. Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass eine solche Vision Taten erfordert. Und bei dem, was du gesehen hast, denke ich auch nicht, dass du eine große Wahl hattest. Wenn ich an deiner Stelle wäre - und ein paar Jahre jünger - würde ich ebenfalls gehen.« Gwilym lächelte dünn. »Ich bin froh, dass du das sagst«, antwortete er ehrlich. »Wenn du in meiner Lage wärst, würdest du den Stein mitnehmen?«
Oswin nickte. »Eine schwierige Frage.« Er schwieg eine Zeit lang, als müsse er die Frage in seinem Kopf hin- und herwenden. »Wahrscheinlich«, sagte er schließlich, »da er in der Vision ebenfalls vorhanden war. Aber ich hätte Bedenken, ebenso, wie du offenbar welche hast.«
»Einige in der Siedlung halten es für ein unnötiges Risiko«, erklärte Gwilym. »Ich war schon vorher unsicher, aber das hat es nicht gerade besser gemacht.«
»Lass mich raten«, meinte Oswin grinsend. »Urias?« Gwilym lachte und nickte.
»Das dachte ich mir.« Wieder lachten sie, dann verschwand die Heiterkeit des hoch gewachsenen Steinträgers, und er sah den jüngeren Mann forschend an. »Es ist tatsächlich ein Risiko, Gwilym. Das brauche ich dir nicht zu sagen. Ich denke, es war richtig von dir, ihn mitzunehmen, aber wenn du deine Ansicht inzwischen geändert hast, kannst du ihn hier lassen. Ich würde ihn persönlich zu deinen Leuten zurückbringen.«
»Danke«, sagte Gwilym, »aber ich bleibe bei meinem Entschluss.«
Oswin nickte. »Gut für dich.« Er schien wieder über etwas nachzudenken. »Hast du je vom Netzwerk gehört?«, fragte er schließlich.
»Das Netzwerk?«, wiederholte Gwilym. »Nein.«
»Ich auch nicht«, gab der ältere Mann mit einem Grinsen zu. »Zumindest nicht vor diesem Sommer. Komm mit«, fügte er hinzu und ging auf die Mitte des Zeltkreises zu. »Du solltest jemanden kennen lernen.«
Gwilym folgte dem Träger durch die Dorfmitte zum unteren Rand der Siedlung, direkt oberhalb der Weiden für die Herdentiere. Dort fanden sie ein kleines, neu aussehendes Zelt und daneben einen Mann, der sich um ein Feuer kümmerte, einen großen, muskulösen Mann mit langem, wirrem blondem Haar. Er lächelte, als er Oswin näher kommen sah, obwohl die Freundlichkeit nicht seine blauen Augen erreichte. Er warf Gwilym einen kurzen Blick zu, aber seine Miene verriet nichts.
»Hallo, Kham!«, rief Oswin, als die beiden näher zu dem Heim des Mannes kamen. »Ich hoffe, wir stören nicht.« »Nicht im Geringsten, Oswin«, entgegnete der Mann. Er hatte die Stimme nicht erhoben, aber sie trug weit in der frischen Bergluft. »Ich war gerade dabei, etwas zu kochen. Wollt ihr mitessen?«
»Danke, nein«, erwiderte Oswin.
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